Das Duell. Anton TschechowЧитать онлайн книгу.
seine Mittel lebte, Schulden machte, gar nichts tat und nicht einmal las, weil er so wenig gebildet war und nichts wußte. Auf alle meine Vorwürfe lächelte er nur bitter und sagt«: ›Ich bin ein Pechvogel, ein überflüssiger Mensch!‹ oder: ›Was verlangen Sie, Liebster, von uns, den Epigonen der Leibeigenschaftszeit?‹ oder: ›Wir degenerieren …‹ Oder er fing an, eine lange, blödsinnige Rede zu halten über Puschkins Onegin, Lermontows Petschorin, Byrons Kain, Turgenjews Basarow, von denen allen er behauptete: ›Sie sind unsere Väter im Fleische und Geiste.‹ Es folgte daraus, daß es nicht seine Schuld war, daß die amtlichen Korrespondenzen wochenlang unerbrochen herumlagen, daß er selbst trank und andere betrunken machte, sondern die Schuld Onegins, Petschorins und Turgenjews, der den Pechvogel und überflüssigen Menschen erfunden hat. Der Grund für seine Liederlichkeit und den ganzen Unfug liegt also nicht in ihm selbst, sondern irgendwo im Raume! ... Und dann noch dieser Witz: liederlich, verlogen und eklig ist nicht er allein, sondern ›die ganze Generation der 80er Jahre‹, ›wir, die welken, nervösen Spätgeborenen der Leibeigenschaftsperiode‹, ›die Zivilisation hat uns zu Krüppeln gemacht‹... Mit einem Worte, Sie müssen begreifen, daß ein so großer Mann wie Lajewskij auch in seinem Fallen groß ist, daß seine Liederlichkeit, Unbildung und Unwirklichkeit eine naturhistorische, von der Notwendigkeit geheiligte Erscheinung darstellen, daß dem universale, elementare Ursachen zugrunde liegen und daß man vor Lajewskij eine Ampel – wie vor einem Heiligenbilde – entzünden muß, weil er das unglücklichste Opfer des Zeitalters, der geistigen Strömungen, der Vererbung usw. ist. Alle die Beamten und ihre Damen machten Ach und Oh, wenn er loslegte, und ich konnte lange nicht herauskriegen, mit wem ich es eigentlich zu tun hätte: mit einem Zyniker oder einem gewandten Schwindler? Solche Subjekte, die scheinbar intelligent sind, ein bißchen an der Bildung gerochen haben und viel von ihrem eigenen Edelmut reden, verstehen es, sich den Anschein zu geben, als wären sie ungewöhnliche Naturen.«
»Schweig' still,« fuhr Samoilenko auf, »ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart von einem vorzüglichen Menschen schlecht spricht.«
»Unterbrich mich nicht, Alexander Dawidowitsch,« sagte Herr von Koren kühl, »ich bin gleich fertig. Lajewskij ist ein ziemlich einfacher Organismus. Man kann ihn folgendermaßen moralisch analysieren: morgens: Pantoffeln, Baden und Kaffee; nachher bis Mittag: Pantoffeln, Motion und Unterhaltung; um zwei Uhr: Pantoffeln, Mittag und Wein; um fünf Uhr: Baden, Tee und Wein; nachher Whist und Lügen; um zehn Uhr: Abendessen und Wein; und nach Mitternacht: Schlafen und la femme. Seine Existenz ist in dies enge Programm eingeschlossen, wie das Ei in seine Schale. Ob er geht oder sitzt, sich ärgert, schreibt oder sich freut, alles bezieht sich auf Wein, Karten, Pantoffeln und Weiber. Das Weib spielt eine verhängnisvolle, erdrückende Rolle in seinem Leben. Er selbst berichtet, daß er schon mit dreizehn verliebt war; als Student im ersten Semester hatte er ein Verhältnis mit einer Dame, die eine wohltuende Wirkung auf ihn gehabt und der er seine musikalische Bildung zu verdanken hat. Als Student im dritten Semester befreite er eine Prostituierte aus einem Bordell und hob sie zu sich empor, das heißt machte sie zu seiner Maitresse; sie aber kehrte nach einem halben Jahr wieder zu ihrer Wirtin zurück, und diese Flucht verursachte ihm nicht wenig seelische Qualen. Der Ärmste quälte sich so furchtbar, daß er die Universität verlassen und zwei Jahre zu Hause, ohne jede Beschäftigung bleiben mußte. Aber alles wendete sich zum besten. In seiner Heimat wurde er mit einer Witwe intim, die ihm den Rat gab, das juristische Studium aufzustecken und mit dem philologischen zu beginnen. Das tat er auch. Als er ausstudiert hatte, verliebte er sich in seine jetzige – wie heißt sie noch? – die Verheiratete und mußte mit ihr hierher, nach dem Kaukasus fliehen, angeblich der Ideale wegen. Wenn nicht heute, so morgen wird er ihrer überdrüssig und brennt nach Petersburg durch, auch der Ideale wegen.«
»Woher weißt du das?« brummte Samoilenko mit einem bösen Blick auf den Zoologen. »Iß doch lieber.«
Der Bursche brachte gekochte Thunfische mit polnischer Sauce. Samoilenko legte jedem seiner Pensionäre einen ganzen Fisch auf den Teller und goss eigenhändig die Sauce darüber. Ein paar Minuten vergingen im Schweigen.
»Das Weib spielt eine wesentliche Rolle im Leben jedes Menschen,« sagt der Diakon, »dabei ist nichts zu machen.«
»Ja, aber in welchem Grade? Jeder von uns hat ein Weib zur Mutter, zur Schwester, zur Frau, zur Freundin, aber für Lajewskij ist das Weib alles und zudem nur in seiner Eigenschaft als Maitresse. Sie, das heißt das Zusammenleben mit ihr, bildet das Glück und den Zweck seines Daseins. Fröhlich, traurig, gelangweilt, enttäuscht macht ihn nur das Weib. Sein Leben ist verpfuscht: das Weib ist daran schuld. Die Morgenröte eines neuen Lebens ist ihm aufgegangen: suche das Weib. Ihn interessieren nur die Bücher und Bilder, wo das Weib vorkommt. Unsere Zeit ist seiner Ansicht nach nur darum traurig und schlechter als die vierziger und sechziger Jahre, weil wir es nicht verstehen, uns der Liebesekstase und Leidenschaft bis zur Bewusstlosigkeit hinzugeben. Wäre er Gelehrter oder Schriftsteller, er würde die Welt mit einer Abhandlung beglücken: Die Prostitution im alten Ägypten, oder: Das Weib im dreizehnten Jahrhundert oder so was. Diese Freunde der Leidenschaft haben wahrscheinlich im Gehirn irgendein krebsartiges Gewächs, das das ganze Hirn überwuchert und über dem ganzen Geistesleben dominiert. Sehen Sie sich mal Lajewskij an, wenn er in Gesellschaft ist. Sobald in seiner Nachbarschaft eine allgemeine Frage aufs Tapet gebracht wird, z. B. der Instinkt, sitzt er da und hört nicht zu. Er sieht finster und blasiert aus, nichts interessiert ihn, alles ist schlecht und nichtig. Sobald man aber von Männchen und Weibchen anfängt, z. B. daß bei den Spinnen das Weibchen nach der Begattung das Männchen aufrisst, gleich brennen seine Augen vor Neugierde, sein Gesicht erhellt sich, kurz, der ganze Mensch lebt auf. Alle seine Gedanken, wie edel, erhaben oder unqualifizierbar sie sein mögen, haben denselben gemeinsamen Ausgangspunkt. Geht man mit ihm auf der Straße, und es begegnet einem z. B. ein Esel, so fragt er: ›Sagen Sie doch, bitte, Verehrtester, was kommt dabei heraus, wenn man eine Eselin mit einem Kamel sich kreuzen läßt?‹ Und die Träume. Hat er Ihnen einmal seine Träume erzählt? Das ist großartig. Einmal träumt ihm, daß er mit dem Monde verheiratet ist, ein andermal, daß er auf die Polizei gerufen wird und dort den Befehl erhält, mit einer Gitarre ehelichen Verkehr zu pflegen.«
Der Diakon lachte hell auf. Samoilenko runzelte die Stirn und legte sein Gesicht in zornige Falten, um nicht auszuplatzen. Er hielt es aber nicht aus und fing plötzlich laut zu lachen an.
»Das ist alles nicht wahr,« sagte er und wischte sich die Tränen, »das ist bei Gott nicht wahr!«
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