Finn und Tea bei den Kreuzrittern. Anja ObstЧитать онлайн книгу.
wie unsere Anwesenheit hier in der Vergangenheit ja auch Einfluss auf die Zukunft haben könnte. Das müssen wir aber verhindern.«
»Was könnten wir denn hier beeinflussen?«
»Oh! Sehr viel!«
Tea kletterte von seiner Schulter auf die Mauer und setzte sich auf Augenhöhe mit Finn in ein Loch, wo früher wohl mal ein Stein gewesen war.
»Bei einer Zeitreise landet man ja, wie der Name schon sagt, in einer anderen Zeit, entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Das bedeutet, dass alles schon passiert ist oder noch passieren wird. Konzentrieren wir uns mal auf die Vergangenheit.«
Finn nickte.
»Gut, alles was wir hier erleben, ist also bereits vor langer, langer Zeit passiert. Und es gibt sogar Aufzeichnungen darüber, in Geschichtsbüchern oder Lexika.«
»Klar, ich hab ja heute eins bekommen!«
»So, nun stell dir mal vor, wir veränderten die Vergangenheit, denn für uns ist sie ja gerade Gegenwart.«
»Was? Moment, nicht so schnell, das verstehe ich nicht!«
»Die Gegenwart ist die Zeit, in der man sich im Moment befindet, ja?«
»Ja.«
»Du bist doch jetzt hier, im Mittelalter, also eigentlich in der Vergangenheit, aber für dich fühlt es sich an wie deine Gegenwart, richtig?«
»Ja.«
»Für dich ist also die Vergangenheit dein Jetzt.«
Finn legte den Zeigefinger auf seinen Mund und grübelte, wie er sonst nur über Matheaufgaben grübelte. Irgendwie war das ja ein bisschen wie Mathematik. Kein Wunder, dass er nichts versteht.
»So, nun ist deine jetzige Gegenwart aber eigentlich schon lange vorbei und zu allem Überfluss in Lexika dokumentiert. Die Vergangenheit sollte also nicht geändert werden. Denn das würde auch deine eigentliche Gegenwart verändern.«
»Okay, das verstehe ich.«
»Sehr gut!«
Tea hob ihren Daumen.
»Alles, was wir hier machen, darf die Geschichte auf keinen Fall beeinflussen.«
Sie machte eine kleine Pause.
»Darüber musst du dir aber keine Gedanken machen, ich passe schon auf, dass das nicht passiert. Aber im Grunde genommen ist deine Begegnung mit Leopold schon etwas, was große Konsequenzen haben könnte. Nehmen wir mal den Papst als Beispiel«, fuhr Tea nach einer kurzen Pause fort. »Stell dir vor, er wäre über dich gestolpert, hätte sich ein Bein gebrochen und deswegen nicht die Rede über die Kreuzzüge halten können. Die Kreuzritter wären dann vielleicht gar nicht oder erst später losgezogen. Die Leben aller Beteiligten und ihre Schicksale hätten sich verändert.«
Tea schaute Finn an und suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen, ob er sie verstanden hat. Von dem Jungen kam allerdings nur ein schwaches, langgezogenes »Okay«.
»Ein anderes Beispiel: Du weißt aus deinen Geschichtsbüchern, dass es die Kreuzritter gab.«
»Ja!«
»So, nun taucht jemand aus einer anderen Zeit auf, geht zum Papst und ersticht ihn.«
Finn kicherte und verzog dann sein Gesicht zu einer Grimasse mit geschlossenen Augen und heraushängender Zunge.
»Finn!«
Der mahnende Ton ließ Finn aus seiner Totenstarre aufschrecken. Und in der Tat sah Tea ihn sehr ernst an.
»Mit deinen Ritterfiguren zu spielen und sie sterben zu lassen, ist eine Sache«, sagte sie. »Wir sind hier allerdings im wirklichen Leben und begegnen echten Menschen. Es ist kein Spiel, das musst du dir immer vor Augen halten.«
Finn senkte den Kopf und scharrte mit dem Fuß im staubigen Sand.
»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, denn dir kann nichts passieren und wir können jederzeit zurück. Für die Menschen hier«, Tea machte eine ausladende Armbewegung, »ist es die Realität.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.«
»Der einzige Unterschied ist, dass diese Realität hier schon vorbei ist. Das macht sie aber nicht unwirklicher. Vor allem nicht, wenn wir uns gerade in ihr befinden.«
Finn nickte schnell.
»So, und wenn in dieser vergangenen Realität etwas verändert wird, wie eben zum Beispiel ein Attentat auf den Papst, dann veränderte sich alles Nachfolgende ebenfalls. Vielleicht fänden dann gar keine Kreuzzüge statt, weil alle beschäftigt sind, einen neuen Pappst zu finden. Aber«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »in deinen Büchern wird davon berichtet. Das ginge aber nicht, weil es die Kreuzzüge ja dann gar nicht gegeben hätte. Verstehst du?«
»Ja, langsam fällt der Groschen«, bestätigte Finn.
»Die Ereignisse der Vergangenheit sind also praktisch in Stein gemeißelt und dürfen nicht verändert werden«, fasste Tea noch einmal zusammen.
Finn schaute auf den Platz, wo noch immer ein paar Menschen standen und diskutierten. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass alles, was er hier tut, eine Wirkung auf die Zukunft haben könnte. Aber die Zukunft ist ja praktisch auch schon vorbei, überlegte er.
»Richtig!«, mischte sich Tea in seine Gedanken. »Die Zukunft der Kreuzritter ist in deiner wirklichen Gegenwart im Lexikon aufgeschrieben, also bereits geschehen.«
»Ich glaube, ich habe es jetzt einigermaßen verstanden.«
Tea nickte ihm erfreut zu und klopfte ihm auf die Schulter.
»Wie gesagt, ich achte darauf, dass alles gut geht. Du kannst also völlig entspannt durch das Mittelalter laufen.«
Tea kletterte zurück auf seine Schulter. Plötzlich kam es Finn vor, als ob er in weiter Ferne die Stimme seines Vaters hörte. Noch bevor er Tea danach fragen konnte, tauchten die bunten Farben vor seinem inneren Auge auf und er raste durch den Zeittunnel. Noch völlig verdattert fand er sich in seinem Zimmer wieder.
»Finn? Wo steckst du denn?«
Sein Vater streckte den Kopf durch den Türspalt.
»Warum antwortest du denn nicht, wenn wir dich rufen?«
Der Vater sah seinen Sohn mit ernster Miene an.
»Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest.«
»Äh, nein, ich meine, ja, alles okay«, stammelte Finn.
Das war ja ein schnelles und unerwartetes Ende des Ausflugs! Er sah sich um. Tea war durch die plötzliche Rückreise von seiner Schulter gestürzt und hing nun kopfüber von der Zugbrücke. Das kann selbst für eine Puppe nicht bequem sein. Behutsam bettete Finn Tea auf eines der Kissen in seiner Kreuzritter-Berglandschaft.
»Was hast du dir denn hier Tolles aufgebaut?«
Der Vater kniete sich hin und begutachtete den beschwerlichen Weg, den Finn für seine Ritterfiguren gestaltet hatte.
»Von hier geht's los«, Finn zeigte, als ob nichts gewesen wäre, auf die Burg, »dann müssen sie erst durch diese Berge und dahinten«, sein Finger wanderte zum Kopfende seines Bettes, »ist Jerusalem. Das soll befreit werden.«
»Jerusalem? Wie kommst du denn darauf?«
»Das wurde doch von den Seldschuken erobert und nun sollen die Kreuzritter dem Kaiser, äh, Alexis oder so, helfen, es zurückzubekommen.«
Fassungslos saß der Vater mit offenem Mund da. Er konnte kaum glauben, dass sein Sohn sich eine so plausibel klingende Geschichte ausdenken konnte. Und wer, zum Henker, sind die Seldschuken?
»Woher hast du denn die Idee?«
»Äh, nun, von . . . äh . . . «
Aus den Augenwinkeln sah Finn, wie Tea umkippte, das Kissen