Die Letzten. Rainer Maria RilkeЧитать онлайн книгу.
darüber breiten, und seine Hände zittern davon.
Aber da sagt Kasimir schon:
»Der Herr hat ganz recht. Wir haben keine Kunst.«
»Vergessen Sie Ihren »Pan Tadeuz« nicht,« mahnt Graf Saint-Quentin.
»Gerade an ihn denke ich. Und an die großen Russen. Und an Tetmajer und diese feinen jungen Poeten, die das Kranksein so schön machen. Sie sehen, ich denke an Viele. Und dabei kommt heraus, dass wir Künste haben, keine Kunst. Viele Sehnsüchte und keine Erfüllung. Vielleicht ist das bei den Deutschen anders, ich weiß nicht. Aber dann müssen die Deutschen sehr glücklich sein –«
Die Prinzessin hat sich vom Kamin abgewendet. Ihre Augen rufen in das Dunkel hinein.
Und der deutsche Maler fühlt: jetzt geht wieder so ein Gespräch los, das zu nichts führt. Es ist eine grässliche Art, dieses Geistreichsein. Und dabei sind alle die Dinge so klar, so lange man nicht in ihnen herumrührt.
Und er schweigt, um die Sache nicht weiter auszudehnen.
Wenn nur der Herr aus Wien nicht gefragt hätte: »Wie meinen Sie das?« Dann wäre es ja wohl zu Ende gewesen. Aber natürlich fragt er. »Wie meinen Sie das?«
Nicht gleich antwortet Kasimir, und die Prinzessin Helena Pawlowna hat Zeit, ihre Hände zu falten.
Dann kommen wieder lauter weiche Worte aus dem Dunkel. Dann und wann vernimmt man einen Schritt, als ob der Pole irgendein besonders ängstliches Wort ein Stück begleiten wollte in den Saal hinein. So ungefähr:
»Wir haben ja früher davon gesprochen, bitte. Kunst ist Kindheit nämlich. Kunst heißt, nicht wissen, dass die Welt schon ist und eine machen. Nicht zerstören, was man vorfindet, sondern einfach nichts Fertiges finden. Lauter Möglichkeiten. Lauter Wünsche. Und plötzlich Erfüllung sein, Sommer sein, Sonne haben. Ohne dass man darüber spricht, unwillkürlich. Niemals vollenden. Niemals den siebenten Tag haben. Niemals sehen, dass alles gut ist. Unzufriedenheit ist Jugend. Gott war zu alt am Anfang, glaub’ ich. Sonst hätt’ er nicht aufgehört am Abend des sechsten Tages. Und nicht am tausendsten Tag. Heute noch nicht. Das ist aller Grund, den ich gegen ihn habe. Dass er sich ausgeben konnte. Dass er fand, dass sein Buch zu Ende sei mit dem Menschen, und nun die Feder fortgelegt hat und wartet, wie viel Auflagen es haben wird. Dass er kein Künstler war, das ist so traurig. Dass er doch kein Künstler war. Darüber möchte man weinen und den Mut verlieren zu Allem –«
Da fällt die silberne Uhr ein, hell, zögernd, mit einem kleinen Zittern in der Stimme.
Man lässt sie ausreden, und hinter ihr beginnt der Pole, ganz unwillkürlich leiser und heimlicher.
»Ein Lied, denken Sie, ein Bild, welches Sie erkennen, ein Gedicht, das Sie lieb haben, das alles hat seinen Wert und seine Bedeutung. Ich meine für den, der es zum ersten Mal macht und für den, der es zum zweiten Mal macht: für den Künstler und für den wahrhaft Schauenden. Denn es ist so: der Bildhauer z. B. macht seine Statue für sich, allein für sich; aber (und das ist das Mehr seiner Arbeit) er schafft außerdem Raum für sie in der Welt neben den anderen Dingen; und nur, wer imstande ist, das Bild innerhalb dieses Raumes aus eigener Kraft zu wiederholen, der hat es in Wahrheit und im Geiste –«
Die Kaminglut beginnt dunkler zu werden. Hinter den goldenen Gittern geschieht ein Stürzen und Zerstieben der breiten Pinienscheite. Es ist eine Verwirrung, als brächen phantastische Paläste zusammen.
Und mit dem Dunkel kommt der Pole näher und bringt seine immer leiseren Worte mit. Wie Kinder, die Wünsche aufsagen sollen, sind sie: beschämt und schön.
»Diese Dinge also, Lied und Gedicht und Bild, sind anders als die anderen Dinge. Sehen Sie das gütig ein, bitte. Sie sind nicht. Sie werden jedesmal wieder. Darum geben sie die Freude, die unendliche. Diese Macht. Dieses Bewusstsein von unerschöpflichen Schätzen, das sonst von nirgends kommt. Darum heben sie hinauf. Ja, das tun sie. Sie heben uns – hoch – bis zu Gott.«
Der Graf von Saint-Quentin macht eine Bewegung, als ob er Platz schaffen wollte für ein Wort.
Auch der Herr aus Wien ist nah am Reden. Er liest angestrengt in seinen Händen.
Aber Kasimir hat das alles nicht bemerkt. Auch nicht, dass der deutsche Maler sich damit beschäftigt, seine Finger auf einen kleinen Elefanten aus Ebenholz zu setzen und reiten zu lehren. Elender Zeitvertreib. Wie auf dem Land bei Regenwetter, so ungefähr.
Währenddem hat Kasimir längst begonnen; man sieht jetzt, wie seine dunklen Augen erwachen:
»Helena Pawlowna, – und jetzt sagen Sie selbst, bitte, ist das nicht hoffnungslos? Immer nur bis zu Gott. Nie durch ihn durch. Nie über ihn hinaus. Als ob er ein Felsen wäre. Und er ist doch ein Garten, wenn man so sagen darf, oder ein Meer oder ein Wald – ein sehr großer –«
Und da horchen alle in den Wald hinein. Die Prinzessin neigt sich weit, weit vor, dem Polen entgegen. Als ob sie allein alle seine Worte wollte, alle seine Worte – auch diese folgenden:
»Was muss man also tun, Helena, damit es nicht so traurig ist, das? Nicht so sinnlos traurig. Jetzt sagen Sie mir’s, Helena. Sie sagen – ich höre, – etwa Das sagen Sie, Helena, nur besser, strahlender, als ich es kann: man muss, sagen Sie, dort muss man anfangen, wo Gott abliess, wo er müde wurde, dort muss man einsetzen. Wo ist das, Helena, bitte? Im Leben ist das, beim Menschen. Nicht bei den Vielen, bei dem einen Menschen, der einem entgegenkommt von Ewigkeit. Der Einem alles das bringt, das Andere, was man noch braucht, um nie eine Not zu haben, um beginnen zu können sorglos, verschwenderisch; – denn das darf nicht sein, Helena, wie ein flüchtiger Besuch von Mensch zu Mensch. Und die Welt treibt unbekümmert daran vorbei. Das muss ein Fest sein, ein Jubel, ein grenzenloser. Sie haben ein Bild dafür gefunden, Helena, so: zwei Feldherren, die zu einander kommen auf den Höhen. In einem leuchtenden Land. In Jerusalem vielleicht, in Ägypten oder am Ganges. Jeder mit einem Heer hinter sich – und jedes Heer die halbe Welt –«
Da hat Helena Pawlowna sich erhoben. Hoch. Stille. Zwei Menschen stehen einander gegenüber. Zwei Könige. Es ist eine Weile wie in Jerusalem oder wie am Ganges. Und auch die Flammen hinter den goldenen Gittern erheben sich und streuen Glanz weit aus.
Der Graf von Saint-Quentin hat seinen Platz am Kamin verlassen und ist im Begriff, sich leise zurückzuziehen. Der Herr aus Wien ist langsam aufgestanden, und auch der deutsche Maler hat auf einmal begriffen: man muss aufstehen in diesem Augenblick. Er ist maßlos erstaunt. Man sprach doch über Kunst eben noch – merkwürdig. Und da setzt er sich auch schon wieder mit einer gewissen Erleichterung. Man muss reden, denkt er, um Gotteswillen rasch, man muss reden. Das Erste-Beste. Er strengt sich ungeheuer an. Ihm fällt nichts ein, als der arme kleine Ebenholz-Elefant, den er in der letzten Viertelstunde abgerichtet hat; aber es ist doch unmöglich, plötzlich von diesem Elefanten zu sprechen: Herr Gott –
Da hört er den Grafen von Saint-Quentin, französisch:
»Sie müssen verzeihen, Helena Pawlowna, wenn ich schuldig bin an diesem Aufbruch –« und die feine Pendüle unterstützt ihren Landsmann. Sie schlägt irgendeine endlose Stunde, den ganzen Abschied entlang, so dass Keiner etwas sagen muss.
Auch Kasimir nicht. Man kann sein Gesicht nicht sehen und nicht wissen, ob er bleich ist. Aber seine Augen müssen müde sein. Das hat man so im Gefühl. Und seine Hand zittert und ist schwer. Er verneigt sich tief vor der Prinzessin, tief. Dann geht er, wie Einer, der nicht wiederkommen wird an einen lieben Ort. Zögert bei jedem Schritt. Sieht allen Dingen ins Gesicht mit so ernsten Augen. Aufmerksam. Damit er doch weiß, wie alles war.
Helena Pawlowna bleibt vor dem verloschenen Kamin. Sie horcht: nur die kleine, silberne Uhr und die tickt atemlos, atemlos, als liefe sie hinter einer Sekunde her, die viel, viel schneller ist. Und da langt die Prinzessin zum Kamin hin nach einer kleinen, alten, goldenen Glocke, in deren Griff winzige Bilder getrieben sind.
Helena Pawlowna wird Licht befehlen, viel Licht.
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