Oliver Twist. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
können, und suchten ihn auf jede Weise angenehm zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen. Als er jedoch am folgenden Tage wieder in das Zimmer der Haushälterin hinunterkam, hob er sogleich die Augen nach der Wand empor, in der Hoffnung, das Bild der schönen Dame zu erblicken. Er sah sich getäuscht; es war entfernt worden. Frau Bedwin hatte ihn jedoch beobachtet.
»Ah!« sagte sie, »es ist nicht mehr da, mein Kind.«
»Ich seh' es, Ma'am,« erwiderte Oliver seufzend. »Warum ist es denn fortgenommen worden?«
»Weil Mr. Brownlow sagte, es schiene dich unruhig zu machen und könnte daher deiner Wiederherstellung schaden.«
»Ach, es machte mich gar nicht unruhig, Ma'am. Ich freute mich es anzusehen und hatte es gar zu lieb gewonnen.«
»Nun, nun, mein Kind,« sagte die gute Frau, es geht dir ja zusehends besser, und es soll schon wieder aufgehängt werden; ich verspreche es dir. Laß uns jetzt aber von andern Dingen sprechen.«
Sie hatte ihm in seiner Krankheit so viele Liebe erwiesen, daß er sich vornahm, einstweilen nicht mehr an das Bild zu denken. Er hörte ihr daher aufmerksam zu, als sie begann, ihm von ihren wohlgeratenen Kindern und ihrem guten seligen Ehemann zu erzählen. Sodann wurde Tee getrunken, worauf sie ihn Cribbage spielen lehrte, was er schnell begriff und eifrig mit ihr spielte, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen.
Es folgten nun selige Tage für Oliver. Alles um ihn her war so still, sauber und ordentlich, und jedermann war so liebevoll gegen ihn, daß er fast im Himmel zu sein glaubte. Als er imstande war, sich wieder ordentlich anzukleiden, hatte Mr. Brownlow schon für einen ganz neuen Anzug gesorgt, und da ihm gesagt wurde, er könnte mit seinen alten Kleidern tun, was er wollte, so gab er sie der Magd, die sehr gefällig gegen ihn gewesen war, und sagte ihr, sie möchte sie an einen Juden verkaufen und das Geld behalten. Die Magd machte sogleich Gebrauch von der erhaltenen Erlaubnis, Oliver sah durch das Fenster, wie der Jude seine ganze alte Garderobe zusammenwickelte, einsackte und fortging; und er freute sich nicht wenig darüber, da er nun nicht mehr zu fürchten brauchte, die traurigen Lumpen je wieder anlegen zu müssen.
Es mochte etwa eine Woche vergangen sein, als eines Nachmittags Mr. Brownlow hinunterschickte und Oliver zu sich rufen ließ. Frau Bedwin ordnete eiligst den Anzug und das Haar ihres kleinen Pfleglings und begleitete ihn selbst bis an Mr. Brownlows Tür. Das Zimmer war mit Büchern angefüllt, und das einzige Fenster wies in einen kleinen Blumengarten. Mr. Brownlow legte ein Buch aus der Hand und sagte Oliver, er möchte näher kommen und sich setzen. Oliver tat, wie ihm geheißen war, und dachte, wo die Leute wohl gefunden werden könnten, eine solche Menge von Büchern zu lesen, die geschrieben zu sein schienen, um die Welt klüger zu machen – eine Sache, welche fortwährend erfahreneren Leuten zu schaffen macht, als Oliver Twist es war.
»Du siehst hier sehr viel Bücher, nicht wahr, mein Kind?« fragte Mr. Brownlow.
»Ja, sehr viele,« erwiderte Oliver; »ich habe noch nie eine solche Menge von Büchern gesehen.«
»Du sollst sie, wenn du dich gut beträgst, auch lesen, was dir noch besser gefallen wird, als das bloße Beschauen der Bände – wenn auch nicht immer; denn es gibt allerdings Bücher, an welchen die Einbände bisweilen das Beste sind. Möchtest du wohl ein recht gescheiter Mann werden und selbst Bücher schreiben?«
»Ich möchte lieber in Büchern lesen, Sir,« entgegnete Oliver.
»Wie, du möchtest also kein Bücherschreiber sein?« sagte der alte Herr.
Oliver besann sich ein wenig und erwiderte endlich, es bedünke ihn weit besser, ein Buchhändler zu sein, worüber der alte Herr herzlich lachte, und wozu er bemerkte, Oliver habe da etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich über diese Anerkennung, obgleich er durchaus nicht begriff, wodurch er sie verdient haben möchte.
»Sei nur ohne Furcht,« sagte der alte Herr; »ich werde dich nicht zum Schriftsteller machen, solange es noch ein anderes ehrliches Geschäft oder Handwerk gibt, das du erlernen kannst.«
»Ich danke, Sir,« entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte abermals über den großen Ernst, mit dem er antwortete, und sagte ein paar Worte von einem merkwürdigen Instinkt, welche Oliver nicht sehr beachtete, da er sie nicht verstand. Brownlow fuhr darauf in einem wo möglich noch freundlicheren, aber zugleich ernsteren Tone, als er gegen Oliver bis dahin angenommen, fort: »Sei jetzt recht aufmerksam auf das, was ich dir sagen werde. Ich gedenke ohne Rückhalt mit dir zu reden, weil ich überzeugt bin, daß du mich ebensogut verstehen wirst wie viel ältere Personen.«
Oliver erschrak. »Ach!« rief er aus, »sagen Sie nicht, daß Sie mich fortschicken wollen, Sir; weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen umherirren muß. Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben und Ihnen dienen. Schicken Sie mich nicht in das schreckliche Haus zurück, woher ich gekommen bin. Erbarmen Sie sich eines armen verlassenen Knaben, bester Herr!«
»Mein liebes Kind,« sagte der alte Herr gerührt, »du brauchst nicht zu fürchten, daß ich meine Hand von dir abziehe, solange du mir keine Ursache dazu gibst.«
»Das will ich nie, niemals, Sir!«
»Ich hoffe, daß du es nicht tun wirst, glaube es auch nicht. Ich bin oft getäuscht und betrogen worden von Leuten, denen ich wohltun wollte, bin aber trotzdem sehr geneigt, dir zu vertrauen, und ich empfinde eine größere Teilnahme für dich, als ich sie sogar mir selbst erklären kann. Die ich am meisten geliebt habe, ruhen längst in ihren Gräbern, und ich habe auch meines Lebens Glück und Zier begraben – nicht aber meine Herzenswärme. Auch herber Kummer hat sie nicht ausgelöscht, sondern nur noch stärker angefacht; wie denn allerdings Schmerz und Leid unser Inneres stets reinigen und läutern sollten.« – Er hatte dies mit leiser Stimme und mehr vor sich hin, als zu Oliver gesprochen, der ganz still dasaß und kaum zu atmen wagte. – »Doch ich sagte das nur,« fuhr der alte Herr wieder heiterer fort, »weil du ein junges Gemüt hast, und wenn du weißt, daß ich viel gelitten habe, dich vielleicht noch sorgfältiger hüten wirst, mir abermals wehe zu tun. Du sagst, daß du eine Waise wärest und ganz allein in der Welt daständest. Alles, was ich in Erfahrung habe bringen können, bestätigt deine Angaben. Erzähle mir nun, wer deine Eltern gewesen sind, wo du erzogen und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in welcher ich dich gefunden habe. Sage die Wahrheit, und wenn ich finde, daß du kein Verbrechen begangen hast, so soll es dir niemals, solange ich lebe, an einem Freunde fehlen.«
Oliver vermochte vor Schluchzen ein paar Minuten nicht zu antworten, und als er sich endlich gefaßt hatte und seine Erzählung beginnen wollte, ließ sich ein Herr zum Tee anmelden.
»Es ist ein Freund von mir, Mr. Grimwig,« sagte Brownlow zu Oliver. »Er hat ein wenig rauhe Manieren, ist aber im Herzen ein sehr wackerer Mann.«
Oliver fragte, ob er hinuntergehen solle, allein Brownlow hieß ihn bleiben, und in demselben Augenblicke trat Mr. Grimwig, ein korpulenter alter Herr, gestützt auf einen tüchtigen Handstock – denn er hatte ein etwas lahmes Bein – schon in das Zimmer. Oliver hatte nie ein so verzwicktes Gesicht gesehen. Grimwig hielt dem Freunde sogleich auf Armeslänge ein Stückchen Zitronenschale entgegen und polterte, dergleichen würde ihm überall in den Weg geworfen. »Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn Zitronenschale nicht noch mein Tod ist!« beteuerte er.
Es war seine gewöhnliche Beteuerung; allein wenn die Erfindung, den eigenen Kopf zu verspeisen, auch noch gemacht werden sollte, so würde es einem Herrn, wie Mr. Grimwig war, doch jedenfalls stets sehr schwer fallen, in einer einzigen Mahlzeit damit zustande zu kommen.
Mr. Grimwig erblickte Oliver, trat ein paar Schritte zurück und fragte Brownlow verwundert, wer der Knabe wäre.
»Der Oliver Twist, von welchem ich Ihnen erzählt habe,« erwiderte Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
»Doch nicht der Knabe, der das Fieber gehabt hat?« sagte Grimwig, sich noch etwas weiter zurückziehend.
»Gehabt hat,« wiederholte Brownlow lächelnd.
Grimwig setzte sich, ohne seinen Handstock zur Seite zu stellen, beäugelte den hocherrötenden Oliver durch seine Lorgnette und redete ihn nach einiger