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Briefe an die Geliebte. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.

Briefe an die Geliebte - Gunter Preuß


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Zigarre, telefonierte, wobei er nur ab und zu sprach, nickte mir freundlich auffordernd zu, mich zu setzen. Das war nicht einfach, denn im Zimmer befanden sich wenigstens zwanzig Menschen. Jemand fasste mich am Arm und leitete mich zu einer Fußbank, die neben einem Lehnstuhl stand, in dem die Großmutter, die linke Hand wie einen Trichter vor das rechte Ohr haltend, in eine wollene Decke gewickelt saß. Ich setzte mich auf die Fußbank und sah eine Frau um die Dreißig, zierlich, aber nicht zerbrechlich wirkend, in einer Kittelschürze, die bis zu den Schultern nackten Arme dunkel gebräunt, im blonden Haar schwarze Lockenwickel. Sie sagte: "Ich bin Hanna. Seine Frau." Ihre Augen blickten beunruhigt, ihr Mund war mädchenhaft trotzig zusammengepresst, und manchmal brach sie vor allen Leuten in Tränen aus.

      Sie ging zum Sofa, kauerte sich nieder, Kurt Liebschel rekelte sich mit Mühe hoch, legte seine mächtige Hand auf ihren Kopf und sagte geduldig und voller Wärme: "Na, komm schon, altes Mädchen." Sie rieb Augen und Nase an seinem Turnhemd, lachte, als sei ihr etwas Dummes passiert, lief in die Küche und kam bald darauf mit einer Waschschüssel voller Gehacktem zurück.

      "Langt zu", sagte Kurt Liebschel, hieb mit einem Schlachtermesser in das durch den Wolf gedrehte Fleisch, zog einen Batzen heraus, drückte ihn auf eine dünne Scheibe Weißbrot und aß schmatzend. Kurt und Hanna hatten vor einem Jahr geheiratet. Sie hatte eine achtjährige Tochter mitgebracht, die Kurt Liebschel mit Vaterland anredete, und er rief sie Katastrophe. Dieser schwabbelnde fleischige Mann und dieses dünne, bleiche Mädchen hatten ein so inniges Verhältnis zueinander, dass sie wenig miteinander sprechen mussten. Oft beobachtete ich, wie sie sich durch einen Blick verständigten. Hanna Liebschels Vorgeschichte, wie sie selbst sagte, erfuhr ich erst Jahre später, als ihr gewandeltes Wesen auch den Ausdruck ihres Gesichts verändert hatte. Ihre Blicke hielten auf Menschen und Dingen aus, ihre Hände packten fest zu, und sie lief gerade, mit erhobenem Kopf, eine Königin in Kittelschürze, Kopftuch und Gummistiefeln. Sie war Mutter und Ehefrau, führte Haus und Hof, bearbeitete ein Stück Feld, war halbtags im Büro des Bürgermeisters tätig und hatte ein Fernstudium für Ökonomie begonnen. Nie hörte ich sie über zu viel Arbeit klagen. Kurt Liebschels "Da muss man dran drehen", setzte sie freudig in die Tat um. Sie steckte sich selbst ihre Ziele, und bei allem, was sie tat, gewann sie Kraft. Ich denke mir das so: Kurt Liebschel hatte Hanna von ihrer Vorgeschichte: zwei gescheiterte Ehen, allabendliche Kneipengänge, Liebschaften, zwei Unterschlagungen, halbjähriger Gefängnisaufenthalt, wieder Alkohol, entlastet. Im Blauen Wunder, wo Kurt Liebschel Freitagabends einen Skat drosch, hatte er Hanna kennengelernt. Als sie an nichts mehr glaubte, vor allem nicht an sich selbst, hat Liebschel sie eines Freitagabends gefragt, ob sie sich vorstellen könne, mit so einem nackten Berg, wie seine Freunde ihn nannten, zu leben. Er jedenfalls würde sich mächtig freuen, wenn sie ja sagte. Kurt Liebschel war ein weithin geachteter Mann, der einer Bäuerlichen Handelsgenossenschaft vorstand. Hanna hat ja gesagt, aber bestimmt nicht aus einem sinnverwirrenden Gefühl heraus. Ich denke mir, sie hat einfach nur eine letzte Chance für sich und ihr Kind geahnt. Und sie hat bei Nanga Parbat lieben gelernt, erst einmal sich selbst und dann die anderen Menschen.

      Kurt Liebschel hat einmal zu mir gesagt, und ich denke, das war sein Glaubensbekenntnis: "Wenn du erfahren willst, wer du selbst bist und was du kannst, musst du die Kumpels zeigen lassen, wer sie sind und was sie können. Jeder muss sich selbst sein Gesicht geben. Der eigene Kopf muss wachsen. Verstehst du: damit er dran drehen kann."

      Ja, Sonntagvormittags bei Liebschels saß ein munteres Völkchen zusammen: die Müllern, Köchin in der Holländer Mühle; Eduard, Bürgermeister und Rassetaubenzüchter; Lehrer Hinz, Angler und Esperantoverfechter; Bäuerin Alma, Mutter des ganzen Dorfes; Herbert Natz, Gastwirt aus Sendungsbewusstsein und wegen nicht zu befriedigenden Durstes; Heiner, Student der Kulturwissenschaft, der nach der Mutter Wunsch lieber als Mädchen zur Welt gekommen wäre; der von seiner Schwester dauerwellenfrisierte die endgültige Weltrevolution auskämpfen wollende und in Frauennähe jäh errötende Oberschüler Guevara. Und es kamen und gingen ihrer viele mehr. Wenn es der Dienst in der Kaserne Roter Stern erlaubte, kam der sowjetische Offizier Wassili und seine, an Gewicht Nanga Parbat nur einen Zentner nachstehende, Frau Tanjetschka. In den Jahren sah ich die stillen und für alles dankenden Vietnamesen Han und Nguyen, die mit den Kindern Mädchen bei der Kokosernte malten; den schweigsamen Chilenen Pedro, der das Lachen wiedererlernen wollte wie andere eine vergessene Sprache; den Kongolesen Mohammed Ali II., Exboxer, Landwirtschaftsstudent und Liebhaber deutscher Mädchen und Grimm’scher Märchen.

      An den Sonntagvormittagen bei Liebschels war vieles möglich, für das man in der Woche keine Zeit, keinen Mut oder kein Vertrauen hatte. Im äußeren Vordergrund standen die Geschäfte. Es wurde gehandelt mit Dingen, die schwer zu haben waren und darum umso dringender gebraucht wurden. Irgendeiner hatte irgendwas anzubieten, was ein anderer brauchte, der natürlich eine Gegengabe bereithielt. Oder man kannte jemanden, der das geben und dies haben wollte. Dachschindeln wurden gegen grüne Fliesen getauscht, Vierkanthölzer gegen preisgesenkten Teppichbelag, zwanzig Quadratmeter Dielenbretter gegen zweihundert Klinkersteine und so weiter. Irgendetwas fehlte immer, und irgendwo war es zu haben. Und wenn sich ein Problem als zu hartnäckig zeigte, schauten sie auf Kurt Liebschel, ihren Nanga Parbat, der Hinz und Kunz kannte und dran drehte. Er griff zum Telefon, wählte eine Nummer, sagte: "Hier Kurt. Kann ich Erwin sprechen? - Na, alter Kämpfer, wie ist das Befinden? Ist die Wanne heil angekommen? - Erwin, hör mal zu, wir haben hier einen Sonderfall zu lösen. Die gute Frau braucht ..."

      So wurde auch mir an diesem Sonntagvormittag Hilfe versprochen. Manches Ding, das ich zum Ausbau des Hauses benötigte und bisher nicht bekommen hatte, konnte ich mir von einem Mitglied aus Liebschels Runde in den nächsten Wochen abholen. Kurt Liebschel hatte den Leuten erklärt: "Das ist ein junger Geschichtenschreiber. Er kriegt sein Haus nicht zusammen. Wie gesagt, er schreibt Geschichten. Eine kenne ich. Ich sage euch, mit unserer Kunst sind wir nicht am Ende. Hier sollten wir dran drehen."

      Drei, vier Jahre lang ging ich regelmäßig zu den Liebschels wie andere Leute zum Sonntagsgottesdienst; aber wir beteten zu keinem Gott, wir waren unter unseresgleichen und packten an, was wir bewegen wollten. Das eigentlich Wichtige an unseren Zusammenkünften waren nicht die Geschäfte. Das fand ich bald an mir selbst und an den anderen heraus. Wir kamen auch, wenn wir nichts brauchten, denn das tatsächlich Lebensnotwendige an Dingen besaß ohnehin jeder von uns. Bei den Liebschels spürten wir, dass wir voneinander mehr wollten als die Dinge, die wir tauschten. Das Wichtigste war uns unser Zusammensein, dass wir miteinander sprechen konnten über Herbert Natz, des Gastwirts, Leberleiden, über Wassilis Sehnsucht nach Minsk, Alis Liebeskummer, Guevaras neue Philosophie der Weltrevolution, Almas Krampfadern und Eduards Bürgermeisterplagen. Alles wurde ernst genommen, doch nichts so ernst, als dass uns nicht ein Lachen gelungen wäre. Jemand brachte einen scharfen Schluck mit, und Hanna drehte Fleisch durch den Wolf, würzte es mit Pfeffer und Salz und drückte Knoblauchzehen hinein. Es wurde gegessen und getrunken, als seien wir die ganze Woche über nicht dazu gekommen. Mitten im Gespräch schlief Nanga Parbat ein und schnarchte, als rasselten Ketten über Steinpflaster. Niemand störte sich daran. Nach zehn Minuten erwachte er, zwinkerte Hanna und Katastrophe zu, langte mit dem Schlachtermesser in die Schüssel mit Gehacktem und war mitten im Gespräch.

      Manche kamen von weit her, um zu sehen, ob es die Sonntagsvormittagstreffs bei den Liebschels tatsächlich noch gab. "Wie geht's denn so, Nanga Parbat?" - "Sieh dich um, Schorsch, wir leben."

      Sie gingen anders, als sie gekommen waren, erleichtert und festeren Schrittes. Immer wieder habe ich zu ergründen versucht, was es war, das so verschiedene Menschen zu diesem schwergewichtigen Mann, der Mühe hatte, ein paar Schritte zu gehen, hinzog. Wenn sich ein Wellensittich ins Freie verflogen hat, fällt bald ein Schwarm Sperlinge über ihn her und zerhackt ihn. Kurt Liebschel gegenüber, der wahrlich genug Angriffsfläche für derartige Attacken bot, habe ich solches Verhalten nie beobachtet. Bei ihm spielte es wohl überhaupt keine Rolle, wie er aussah. Ich habe die Leute über ihn sagen hören, froh, dass es so etwas gibt: "Nanga Parbat ist ein Mensch." Damit meinten sie keinesfalls, dass er ein Heiliger sei; denn das war er weiß Gott nicht. Er übertrat so manches Gebot, sagte von sich selbst: "Fressen - mein Leben", dachte wie alle braven Männer bei einem Geschäft auch an seinen Gewinn; aber immer gab er uns das gute Gefühl: Es könnte noch so schlimm kommen, er war da


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