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Eine langweilige Geschichte. Anton TschechowЧитать онлайн книгу.

Eine langweilige Geschichte - Anton Tschechow


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auf einmal unser Sohn ein, der als Offizier in Warschau steht. Am zwanzigsten jedes Monats schicken wir ihm fünfzig Rubel hin, und das dient nun als hauptsächlichstes Thema unseres Gespräches.

      »Es fällt uns ja freilich schwer,« sagt meine Frau seufzend, »aber solange er noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, ist es doch unsere Pflicht, ihn zu unterstützen. Der Junge wohnt an einem fremden Orte, und sein Gehalt ist nur klein … Indessen, wenn du willst, können wir ihm ja im nächsten Monat statt fünfzig nur vierzig Rubel schicken. Was meinst du?«

      Aus der täglichen Erfahrung könnte meine Frau lernen, daß Ausgaben dadurch nicht kleiner werden, daß man oft von ihnen spricht; aber meine Frau läßt die Erfahrung nicht gelten und unterhält mich pünktlich jeden Morgen von unserem Offizier und davon, daß das Brot Gott sei Dank billiger geworden sei, der Zucker aber leider zwei Kopeken teurer, – und alles das in einem Tone, als ob sie mir eine Neuigkeit mitteilte.

      Ich höre zu und äußere mechanisch meine Beistimmung; aber wahrscheinlich infolge der schlaflosen Nacht kommen mir sonderbare, unnütze Gedanken. Ich sehe meine Frau an und wundere mich wie ein Kind. Verständnislos frage ich mich: ist diese alte, sehr korpulente, plumpe Frau mit dem stumpfen Ausdruck kleinlicher Sorge und Angst um das tägliche Brot, mit diesem von steten Gedanken an Schulden und Not verschleierten Blicke, diese Frau, die von weiter nichts zu reden weiß als von Ausgaben, und der nur die Wohlfeilheit der Lebensmittel ein Lächeln entlockt, ist diese Frau wirklich einmal jene schlanke Warja gewesen, in die ich mich leidenschaftlich verliebte wegen ihres guten, klaren Verstandes, wegen ihrer reinen Seele, wegen ihrer Schönheit und, wie Othello in Desdemona, wegen ihres »Mitleides« mit meiner Wissenschaft? Ist diese Frau wirklich jene meine Warja, die mir einst einen Sohn gebar?

      Ich blicke der fetten, plumpen alten Frau forschend in das Gesicht und suche in ihr meine Warja; aber von ihrem gesamten früheren Wesen ist nur die Angst um meine Gesundheit bestehen geblieben, und dann noch ihre wunderliche Art, mein Gehalt »unser Gehalt« zu nennen und meine Mütze »unsere Mütze«. Es ist mir schmerzlich, sie anzusehen, und um ihr wenigstens eine kleine Liebe anzutun, lasse ich sie sprechen, was sie mag, und schweige sogar still, wenn sie über andere Menschen ungerecht urteilt oder mir Vorwürfe macht, weil ich keine Praxis ausübe und keine Lehrbücher herausgebe.

      Unser Gespräch endet immer auf die gleiche Weise. Meiner Frau fällt zu ihrem Schrecken plötzlich ein, daß ich noch keinen Tee getrunken habe.

      »Was sitze ich hier?« sagt sie, sich erhebend. »Der Samowar steht längst auf dem Tische, und ich plaudere hier. Wie gedankenlos ich geworden bin, o Gott!«

      Sie geht schnell zur Tür, bleibt aber dort stehen, um zu sagen:

      »Wir sind Jegor noch seinen Lohn für fünf Monate schuldig. Du weißt es doch? Man darf mit der Lohnzahlung an die Dienstboten nicht nachlässig sein, das habe ich dir doch schon wer weiß wie oft gesagt! Zehn Rubel jeden Monat zu bezahlen ist viel leichter als fünfzig mit einem Mal für fünf Monate.«

      Wenn sie aus der Tür hinaus ist, bleibt sie wieder stehen und sagt:

      »Niemand tut mir so leid wie unsere arme Lisa. Das Kind besucht doch das Konservatorium und verkehrt stets in guter Gesellschaft; aber dabei ist ihre Toilette so kümmerlich. Ihr Pelz befindet sich in einem solchen Zustande, daß sie sich schämen muß, sich damit auf der Straße zu zeigen. Wäre sie aus anderer Familie, dann käme es ja nicht darauf an; aber so wissen doch alle Leute, daß ihr Vater ein berühmter Professor und Geheimrat ist!«

      Nachdem sie mir so meinen Ruf und Stand zum Vorwurf gemacht hat, geht sie endlich fort. Auf diese Weise beginnt mein Tag. Und der weitere Verlauf ist nicht besser.

      Während ich Tee trinke, kommt meine Tochter Lisa zu mir ins Zimmer, in Pelz und Mützchen, die Notenmappe am Arm, völlig fertig, um ins Konservatorium zu gehen. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt. Nach ihrem Äußeren würde man sie für jünger halten; sie ist recht hübsch und hat einige Ähnlichkeit mit meiner Frau, wie diese in ihrer Jugend aussah. Sie küßt mir zärtlich die Schläfe und die Hand und sagt:

      »Guten Morgen, Papachen. Fühlst du dich wohl?«

      Als sie noch ein Kind war, aß sie sehr gern Gefrorenes, und ich mußte sie oft in die Konditorei führen. Eis war ihr der Maßstab für alles Schöne. Wenn sie mich loben wollte, so sagte sie: »Du bist von Sahneeis, Papa.« Von ihren Fingerchen hieß eines das Pistazienfingerchen, das andere das Sahnefingerchen, das dritte das Himbeerfingerchen usw. Wenn sie morgens zu mir kam, um mir Guten Tag zu sagen, setzte ich sie gewöhnlich auf meinen Schoß, küßte ihre Fingerchen und sagte dabei:

      »Sahnefingerchen, Pistazienfingerchen, Zitronenfingerchen …«

      Auch jetzt küsse ich aus alter Gewohnheit Lisas Finger und murmele:

      »Pistazienfingerchen, Sahnefingerchen, Zitronenfingerchen …«; aber es hat nicht mehr den richtigen Klang. Ich bin kalt dabei, und darüber schäme ich mich. Wenn meine Tochter zu mir hereinkommt und mit den Lippen meine Schläfe berührt, so zucke ich zusammen, wie wenn mich eine Biene in die Schläfe stäche, lächle gezwungen und wende mein Gesicht ab. Seit ich an Schlaflosigkeit leide, bohrt in meinem Gehirn ein bestimmter Gedanke herum: meine Tochter sieht oft, daß ich, ein alter Mann, ein berühmter Professor, peinlich erröte, weil ich dem Diener Geld schulde; sie sieht, daß die Sorge um kleine Schulden mich oft zwingt, die Arbeit hinzuwerfen, ganze Stunden lang von einer Ecke nach der andern zu gehen und nachzudenken; aber warum ist sie nie hinter dem Rücken ihrer Mutter zu mir gekommen und hat mir zugeflüstert: »Vater, da sind meine Armbänder, meine Uhr, meine Ohrringe, meine Kleider. Trag das alles ins Leihhaus, wenn du Geld brauchst!«? Sie sieht doch, daß wir, ihre Mutter und ich, aus einem falschen Schamgefühle den Leuten unsere Armut zu verbergen suchen; warum verzichtet sie da nicht auf das kostspielige Vergnügen, Musik zu studieren? Annehmen würde ich ja weder die Uhr noch die Armbänder noch sonstige Opfer, Gott behüte; das liegt nicht in meinen Wünschen.

      Dabei denke ich dann auch an meinen Sohn, den Warschauer Offizier. Er ist ein verständiger, ehrenhafter, nüchterner Mensch. Aber mir genügt das nicht. Ich meine, wenn ich einen alten Vater hätte und wüßte, daß bei ihm Augenblicke vorkommen, wo er sich seiner Armut schämt, dann würde ich meine Offiziersstelle jemand anders überlassen und selbst eine Erwerbstätigkeit ergreifen. Solche Gedanken über meine Kinder vergiften mir meine Seele. Was haben solche Gedanken für Zweck? Gegen Menschen gewöhnlichen Schlages nur deshalb ein böses Gefühl hegen, weil sie keine Helden sind, das kann nur ein engherziger oder verbitterter Mensch. Aber genug davon.

      Um dreiviertel zehn muß ich zu meinen lieben Studenten gehen, um ihnen eine Vorlesung zu halten. Ich kleide mich an und wandere auf dem Wege hin, der mir schon seit dreißig Jahren bekannt ist und für mich seine Geschichte hat. Hier steht ein großes, graues Haus mit einer Apotheke; da stand ehemals ein kleines Häuschen, und darin befand sich ein Bierlokal; in diesem Bierlokale überlegte ich meine Dissertation und schrieb ich meinen ersten Liebesbrief an Warja. Ich schrieb ihn mit Bleistift auf einen Bogen mit dem Kopfdruck: Historia morbi. Da ist ein kleiner Viktualienladen; einstmals gehörte er einem Juden, der mir Zigaretten auf Kredit verkaufte, dann einer dicken Frau, die alle Studenten in ihr Herz geschlossen hatte, weil doch jeder von ihnen eine Mutter habe; jetzt sitzt ein rothaariger Kaufmann darin, ein sehr gleichmütiger Mensch, der aus einer kupfernen Kanne Tee trinkt. Und da ist ja auch schon das seit langer Zeit nicht renovierte Universitätstor und der sich langweilende Hausknecht in seinem Schafpelz und ein paar Besen und große Schneehaufen. Auf einen frischen jungen Menschen, der aus der Provinz kommt und die Vorstellung mitbringt, der Tempel der Wissenschaft werde auch in seiner äußeren Erscheinung ein Tempel sein, kann ein solches Tor keinen guten Eindruck machen. Überhaupt muß man sagen: die Baufälligkeit der Universitätsgebäude, die Dunkelheit der Korridore, die verstaubten, verräucherten Wände, der Mangel an Licht, das klägliche Aussehen der Stufen, der Kleiderhaken und der Bänke, dies alles nimmt in der Geschichte des russischen Pessimismus einen der ersten Plätze unter den prädisponierenden Ursachen ein. Da ist auch unser Universitätsgarten. Seit meiner eigenen Studentenzeit ist er, wie ich glaube, nicht besser und nicht schlechter geworden. Ich kann ihn nicht leiden. Es wäre weit verständiger, wenn statt der schwindsüchtigen Linden, der gelblichgrünen Akazien und des dürftigen, beschnittenen


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