Deutschland 1800 - 1953. Jürgen RuszkowskiЧитать онлайн книгу.
Die Revolution von 1848/49
Die Revolution von 1848/49
Zwischen etwa 1800 und 1820 erlebte Deutschland politische Umwälzungen von größter Tragweite. 1830 wurde es von den Impulsen der Pariser Julirevolution erfasst. Aber eine Revolution, die in Gestalt einer Volksbewegung eine etablierte politische Elite stürzte und zu einem unumkehrbaren Systemwandel führte, gab es bis 1848 nicht. In jenem Jahr wurden die deutschen Länder Teil einer beinahe gesamteuropäischen Revolutionswelle. Die Revolution in Deutschland begann Anfang März 1848 mit Protestversammlungen und Unruhen in Baden und anderen Gebieten Südwestdeutschlands. Sie endete im Juli 1849 mit dem Sieg von Bundestruppen über die letzten Aufständischen in Baden und in der Pfalz. Die Revolution erfasste nahezu alle deutschen Staaten. Sie war zugleich eine konstitutionelle, eine nationale und eine soziale Revolution. Sie erschütterte die preußische Hohenzollernmonarchie, die bis dahin kaum Zugeständnisse an liberale Verfassungsforderungen gemacht hatte, und trieb die Herrschaft der Habsburger in Wien an den Rand des Zusammenbruchs. Mit der Krise seiner beiden Vormächte schien vorübergehend das Schicksal des Deutschen Bundes besiegelt zu sein.
Die Revolution führte zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen für eine Nationalversammlung. Dieses gesamtdeutsche, überwiegend mit Vertretern des Bürgertums besetzte Parlament, das erste in der deutschen Geschichte, trat im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Nach sorgfältigen Beratungen verkündete es im März 1849 eine deutsche Reichsverfassung, gültig für das gesamte Territorium des Deutschen Bundes, jedoch unter Ausschluss der im Deutschen Bund vertretenen Teile der Habsburgermonarchie („kleindeutsche Lösung“). Die Verfassung sah eine erbkaiserliche Spitze vor, eine durch das allgemeine und direkte Männerwahlrecht gewählte Zweite Kammer des Reichstags („Volkshaus“) sowie eine Erste Kammer („Staatenhaus“), die aus Vertretern der Einzelstaaten bestehen sollte, davon die Hälfte von den Regierungen entsandt, die andere Hälfte von den Landtagen gewählt. Obwohl die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft trat, wurde sie zu einem Basisdokument der deutschen Demokratie. Sie enthielt einen ausführlichen Grundrechtekatalog, in dem die politischen Bestrebungen des deutschen und europäischen Liberalismus einen gültigen Ausdruck fanden. Ebenso neuartig und wegweisend waren die Überlegungen, die die Verfassungsväter zur Frage der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat („Reich“) und Einzelstaaten anstellten. Die Verfassung stärkte das Reich in einem solchen Maße, dass der Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat konstitutionell vollzogen wurde. Der nationale Einheitsstaat auf föderaler Grundlage, wie er 1871 mit größerem Gewicht der Einzelstaaten realisiert wurde und wie wir ihn im Prinzip heute noch kennen, wurde 1849 erstmals entworfen. Damit verstärkte sich auch ein nationalistisches Denken, das die Frage, wer und was „deutsch“ sei, mit einer neuen Bedeutung versah.
In der Modellhaftigkeit der Verfassung von 1849 liegt die wichtigste Fernwirkung einer Revolution, die ihre Ziele selbst nicht verwirklichen konnte. Das Scheitern der Revolution warf die Demokratisierung Deutschlands um Jahrzehnte zurück und schwächte republikanische und sozialrevolutionäre Kräfte; es stärkte den preußischen Anspruch auf Vorherrschaft in Deutschland und verhinderte eine Dezentralisierung oder gar Auflösung der Habsburgermonarchie. Manche politischen Vorhaben der Revolutionszeit sollten erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg aktuell werden. Die Revolution bündelte die politischen Themen, die während der ersten Jahrhunderthälfte intellektuelle Minderheiten beschäftigt hatten: Einschränkung von Fürstenherrschaft und Regelung des politischen Lebens durch Verfassungen, Schutz des Individuums durch liberale Freiheitsrechte, Schaffung von Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsorientierte und kapitalistische Marktgesellschaft, Neuordnung der politischen Geografie Mittel- und Südosteuropas nach nationalen Gesichtspunkten. Alle diese Themen wurden umfassend diskutiert und blieben nach 1849 auf der politischen Tagesordnung.
Die Revolutionäre waren sich untereinander nicht einig. Bei allen Unterschieden ihrer Ziele und ihres radikalen Temperaments gingen sie jedoch miteinander ziviler um, als dies bei anderen europäischen Revolutionen davor und danach der Fall war. Terror wurde weniger von den Revolutionären praktiziert als von ihren Gegnern – und auch dort vergleichsweise maßvoll. Die Revolution von 1848/49 fand von Anfang an eine Massenbasis, über die die liberalen Honoratioren an ihrer Spitze erstaunten und zum Teil erschraken. Sie war eine Revolution für „bürgerliche“ Werte und Ideale, jedoch, sozial gesehen, keine Revolution ausschließlich der Bürger. Es gab zugleich Revolutionen von Bauern und von städtischen Unterschichten. Wenn sie auch politisch fehlschlug, so setzte die Revolution doch nachhaltige Lernprozesse in Gang, auch bei den konservativen Siegern.
Die bürgerliche Revolution von 1848 in deutschen Landen gescheiterte und zwang manchen Demokraten zur Emigration.
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Industrialisierung und Urbanisierung
Industrialisierung und Urbanisierung
Norddeutsche Trachten
Text von Prof. Dr. Jürgen Osterhammel
https://www.bpb.de/izpb/142117/1850-bis-1880
Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts sah den Durchbruch der Industrialisierung in Deutschland. Gegenüber England, auch Belgien und Teilen Frankreichs, war Deutschland ein Nachzügler. Es holte jedoch schnell auf. Um 1880 war es nach Großbritannien und den USA die drittgrößte Industrienation der Welt. Dies verdankte es nicht dem Textilsektor, der in England die treibende Kraft der Industrialisierung gewesen war, sondern vier anderen Antrieben (die selbstverständlich unterdessen in der britischen Wirtschaft ebenfalls eine Rolle spielten): dem Steinkohlebergbau, der Eisen- und Stahlindustrie, dem Maschinenbau und – dem wichtigsten dieser „Leitsektoren“ – den Eisenbahnen.
Grubenpferd
Foto: Rainer Sielker
Zwischen 1848 und 1864 verdreifachte sich die Zahl der in den wichtigsten Steinkohlegebieten – an der Ruhr, an der Saar, in Sachsen und in Schlesien – Beschäftigten auf etwa 100.000 Arbeiter. Gleichzeitig war dank besserer Technik die Produktivität des Abbaus gestiegen, sodass die Menge der geförderten Steinkohle sogar auf mehr als das Vierfache angewachsen war. Der Bergbau hatte in Deutschland eine lange Tradition. Sie drückte sich in einem besonderen Bergrecht aus, das dem jeweiligen Territorialherrn die Verfügung über sämtliche Bodenschätze übertrug. Der Aufschwung des Steinkohlebergbaus ging nicht nur auf eine steigende Nachfrage nach fossiler Energie und auf neue technische Möglichkeiten der Kohlegewinnung in immer tieferen Untertageschichten zurück, sondern auch auf eine liberalisierende Neuordnung des Bergbaus, die in ihren modernisierenden Auswirkungen der Bauernbefreiung und der Einführung der Gewerbefreiheit vergleichbar ist. Der Staat zog sich auf Inspektionsfunktionen zurück. Gleichzeitig erweiterten sich die Möglichkeiten, über die neue Form der Aktiengesellschaft Kapital im Bergbau zu investieren. Bald wurde der Großbetrieb charakteristisch für die Zechenlandschaft, besonders an der Ruhr.
Auch die Eisen- und Stahlindustrie erforderte Organisation im großen Stil. In Preußen steigerte sich die Erzeugung von Roheisen zwischen 1850 und 1880 von 135.000 auf zwei Millionen Tonnen, die von Stahl von 150.000 auf 1,7 Millionen Tonnen. Ein zunehmender Anteil dieser Produktion ging auf das Konto großer Eisenhütten und Stahlwerke, die vielfach zwischen 1850 und 1875 gegründet wurden oder damals in eine große Expansionsphase eintraten. So erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten bei der Firma Krupp in Essen von weniger als 1.800 im Jahre 1860 auf 16.000 im Jahre 1873. Nur Großunternehmen konnten sich die gewinnbringende Übernahme kostspieliger Technologien leisten, die damals noch vorwiegend in Großbritannien entwickelt und patentiert wurden.
Auch der frühe deutsche Maschinenbau beruhte anfangs auf der Nachahmung ausländischer Vorbilder. Britische, belgische und französische Technologie wurde legal oder auch per Industriespionage nach Deutschland transferiert. Charakteristisch für den Maschinenbau waren geringere Betriebsgrößen und ein typischer Aufstiegsweg vom Handwerkermeister