Der Schrei des Subjekts. Franz Josef HinkelammertЧитать онлайн книгу.
ja Normen durch neue Normen begrenzt werden. Aber das, was sich in der Wurzel dieser Kasuistik befindet, ist eine Reflektion des Gesetzes in bezug auf das smenschliche Leben.
Bei allen seinen Zusammenstößen mit dem Gesetz betrachtet Jesus das mosaische Gesetz seiner Zeit als Dekadenz. Er erfährt dieses Gesetz als Gesetz ohne diese Reflektivität. Ein solches Gesetz leitet seine Geltung ganz ausschließlich aus der Erfüllung seiner eigenen Legalität ab unabhängig von den Auswirkungen, die diese Erfüllung auf das menschliche Leben hat. Es ist dann ein Gesetz, das legitim ist, weil es legal ist. In der Sicht aller Evangelien und auch der Schriften von Paulus, der ein ehemaliger Pharisäer ist, erscheint diese legalistische Interpretation des Gesetzes als die herrschende Sichtweise dieser Zeit, die gleichzeitig als Dekadenz des mosaischen Gesetzes gesehen wird. Die großen Repräsentanten dieses Legalismus der Gesetzesnormen sind die Parisäer, während Jesus in seiner Kritik von einem Projekt ausgeht, das die Reflexivität des mosaischen Gesetzes zurückgewinnen und weiterführen will.
Die Evangelien ebenso wie die Schriften des Paulus stimmen in dieser Sicht des Pharisäers zu dieser Zeit überein. Man kann daher annehmen, daß dieser Charakter des Parisäers in dieser Zeit wirklich existierte und bei der Interpretation des mosaischen Gesetzes vorherrschte. Man kann durchaus annehmen, daß sich ein solcher Legalismus, der nicht jüdischer, sondern gerade griechischer und römischer Tradition entspricht, in Palestina seit dem Reich der Ptolemäer und darauf unter römischer Herrschaft ganz allgemein durchsetzte und dann auch die Interpretation des mosaischen Gesetzes beeinflußte. Dies ist besonders evident für den Fall der Geltung des Wertgesetzes und der daraus folgenden Pflicht zur Schuldenzahlung. Die äußerst hoch entwickelten Herausforderungen gerade dieses Gesetzes durch andere Gesetze, die sich auf Gnadenjahre oder Jubeljahre beziehen, waren praktisch verschwunden, wenn sie auch weiterhin im Gesetzestext standen. Zweifellos ließ die Einführung des römischen Rechts als Zivilrecht überhaupt keinen Raum mehr für solche Korrektionen. Tatsächlich war alle Auffassung des Wertgesetzes im Palestina zur Zeit Jesu vom römischen Recht beherrscht, das in dieser Zeit sicher bereits das am meisten formalisierte Recht in bezug auf das Wertgesetz war. Daher ist gerade die Kritik Jesu am Gesetz der Schuldenzahlung faktisch eher eine Kritik am römischen als am mosaoischen Recht. Dies gilt aus dem einfachen Grund, daß ja faktisch das römische Recht auf diesem Gebiete bereits an die Stelle des mosaischen Gesetzes getreten war. Denn ist einmal alle Herausforderung des Wertgesetzes im Namen des menchlichen Lebens beseitigt, bleibt ein völlig ausgeleertes mosaisches Gesetz übrig, das jetzt den Legalismus des römischen Rechts einfach übernehmen und dann auch auf beliebige andere seiner Normen ausdehnen kann.
Ich gehe daher davon aus, daß alle Gesetzesskritik Jesu von dieser Reflektion des Gesetzes in bezug auf das menschliche Leben ausgeht, die er von der Tradition des mosaischen Gestzes her entwickelt. Daher kann Jesus eine Vision der Erfüllung des Gesetzes darlegen, die gerade nicht legalistisch ist, sondern reflexiv: das Gesetz, das immer ein Gesetz für das Leben ist, kann nur erfüllt werden, wenn es ständig im Licht des menschlichen Lebens herausgefordert und damit relativiert wird, sodaß seine Erfüllung selbst seine ständige Verletzung verlangt. In dieser Sicht ist daher die legalistische Erfüllung des Gesetzes selbst eine Verletzung des Gesetzes als Gesetz für das Leben, während gerade die Verletzung des legalistisch verstanden Gesetzes im Licht des menschlichen Lebens dieses Gesetz erfüllt. Denn das Gesetz ist für das Leben dar, nicht das Leben für das Gesetz. Wenn es zum Hindernis für das Leben wird und es dennoch durchgesetzt wird, wird das Gesetz gebrochen, obwohl es im legalistischen Sinne erfüllt wird. So sagt es auch Paulus: “Es gibt keine Rettung durch die (legalistische FJH) Erfüllung des Gesetzes”.5
Der lebendige Mensch und das Gesetz
Dies ist die Sicht des Gesetzes, von der Jesus ausgeht und wie sie sich ganz allgemein in der christlichen Botschaft ausdrückt. Dennoch führt Jesus, von der mosaischen Tradition ausgehend, dieses Gestzersverständnis weiter. Wenn er, nach Lukas, seine öffentliche Tätigkeit mit der Erklärung eines Gnadenjahrs des Herrn beginnt, erklärt er tatsächlich ja nicht ein bestimmtes Jahr als Gnadenjahr. Das Gnadenjahr, das er ankündigt, bezieht sich auf kein bestimmtes Jahr. Es geschieht in jedem Moment und an jedem Ort, und der lebende Mensch als Subjekt erklärt dieses Jahr immer dann, wenn es erklärt werden muß. Es erscheint der lebende Mensch als Subjekt, der das Gesetz herauszufordern vermag als Teil seines täglichen Lebens, in jedem Moment und an jedem Ort. Dies ist nicht das Gleiche wie das Gnadenjahr des mosaischen Gesetzes, das sich auf ein bestimmtes Jahr bezieht. Es schließt allerdings auch nicht aus, daß weiterhin bestimmte Jahre als Gnadenjahr erklärt werden. Aber über solche bestimmten Jahre hinaus erscheint jetzt diese Vorstellung eines Gnadenjahrs, das in jedem Moment und an jedem Orte vom lebenden Menschen als Subjekt erklärt wird, das ein bedürftiges körperliches Wesen ist und dem Gesetz gegenüber rebelliert.
Es handelt sich um eine Subjektivierung, die Jesus aus der Logik des mosaischen Gesetzes herleitet, die daher dem mosaischen Gesetz nicht widerspricht, obwohl sie darüber hinausgeht. Diese Subjektivierung kostituiert den lebenden Menschen als Subjekt einer Rebellion, die als notwendige Weiterführung des mosaischen Gesetzes verstanden wird. Jesus selbst macht sich, und zwar allen Evangelien nach, zu diesem rebellischen Subjekt, das alle auffordert, diese Rebellion in sich aufzunehmen und daher sich als Subjekt zu verhalten. Dies ist nicht das revolutionäre Subjekt unserer Geschichte, obwohl es allen späteren Revolutionen unterliegt. Dies gilt selbst für den Fall, daß diese Revolutionen dieses Subjekt verschlingen, das in ihrem Anfang stand. Es unterliegt auch dem Christentum, nachdem es zum Christentum der Macht und des Imperiums wurde, obwohl ja auch das Christentum als Orthodoxie dieses Subjekt im Laufe seiner Geschichte verschlungen hat. Dieser Mensch als Subjekt ist auch nicht zu verwechseln mit dem Individuum, das gerade das Ergebnis der Verdrängung dieser Subjektivität durch die Unterwerfung unter das Wertgesetz ist.
Jesus spricht diese Ausdehnung des Gnadenjahrs des Herrn besonders ausdrücklich in jenem Teil des Vater Unser aus, der sich auf die Schuldenzahlung und daher auf die Geltung des Wertgesetzes bezieht. Der Text lautet: “und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben.” (Mat 6, 12) Der Text bezieht sich auf Schulden, nicht etwa auf “moralische” Schuld. Es gibt niemanden, der nicht Schuldner hätte und alle haben bereit zu sein, diese Schulden zu erlassen, wenn die Reflektion in bezug auf das menschliche Leben des anderen, nämlich des Schuldners, dies als notwendig erweist. Dies beginnt mit den Schulden gemäß dem Wertgesetz, gilt aber darüberhinaus für jede Unterwerfung unter Pflichten ganz unabhängig davon, ob der jeweilige Schuldner seine Befreiung verlangt oder nicht. Dieser Schuldennachlaß ist gleichzeitig das, was Gott geschuldet wird. So hat dann der Mensch Schulden bei Gott immer dann, wenn er Schuldner hat, denen er ihre Schulden nicht nachzulassen bereit ist. Der Mensch kann daher Gott keine Schulden bezahlen und Gott zieht keine Schulden ein. Was den Menschen zum Schuldner gegenüber Gott macht, ist die Tatsache, daß er Schuldner hat, denn er keinen Nachlaß gewährt, obwohl sie ihn brauchen.
Auf diese Weise ist hier das Gnadenjahr des Herrn ausgeweitet zur Freiheit des Menschen als Subjekt. Daher treten jetzt Polarisierungen auf wie Gesetz/ lebendes Subjekt, Gesetz/ Gnade, Gesetz/Leben oder Gesetz/ Freiheit. Es handelt sich nicht um Gegensätze, sondern um Spannungsräume, die entstehen, weil der Mensch das Gesetz nicht erfüllen kann, ohne es ständig als Subjekt herauszufordern. Das Gesetz selbst enthält diese Spannung, obwohl das formalisierte Gesetz sie ständig zu verdrängen versucht indem es die legalistische Erfüllung des Gesetzes verlangt.
Diese Kritik Jesu geht vom mosaischen Gesetzaus, wie es zu seiner Zeit durchgesetzt wurde. Dies kann nicht anders sein, da Jesus als Jude spricht und sich an Juden in einer jüdischen Umwelt wendet. Aber es ist offensichtlich, daß es sich nicht um eine Kritik des jüdischen Gesetzes handelt, sondern um eine Kritik des Gesetzes, sei es jüdisches Gesetz oder nicht. Diese Kritik wendet sich an jedes Gesetz und ist eine Kritik des Gesetzes und der Gesetzlichkeit. Dennoch nimmt für Jesus natürlich das mosaische Gesetz eine besondere Stellung ein. Für Jesus als Juden ist das mosaische Gesetz das von Gott gegebene Gesetz und das Paradigma allen Gesetzes. Daraus folgt für ihn, daß, wenn diese Kritik selbst dem von Gott selbst gegebenen Gesetz gegenüber gültig ist, sie dann notwendig auf jedes Gesetz zutrifft, gleich woher es komme. Er argumentiert in diesem Sinne a minori ad maius, wie es der rabbinischen Tradition der