Die Geschichte vom Mädchen Phobie. HeikeHanna GathmannЧитать онлайн книгу.
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HeikeHanna Gathmann
Die Geschichte vom Mädchen Phobie
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Inhaltsverzeichnis
V. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“
VI. „Das Alter einer Riesenschildkröte“
I. „Schockstarre“
Phobie nahm ängstlich den Telefonhörer ab, begann auf der Tastatur mit den Zahlen zu spielen. Vermutlich kein Wort würde sie wieder herausbringen, dachte sie verzweifelt. Ein heftiger Schmerz durchzog ihre rechte Wangenhälfte. Sogar in der Zungenspitze war er zu spüren. Vergleichbar mit einer tief in die Haut stechenden Nadelspitze. Für betrunken - schlimmstenfalls für nicht ganz zurechnungsfähig könnte sie das Gegenüber am Telefon halten. Klang die Stimme des anderen selbstsicher, skeptisch oder abweisend, würde sich der spastische Krampf vermutlich verstärken. Das jedenfalls war Phobies Befürchtung. Sie rang nach Luft, versuchte ruhig tief aus- und einzuatmen. Ob ihre Sprechblockade mit einem Verlust an Vertrauen oder gar mit einem erlittenen Schock zusammenhing? „Unsere Mutter ist gestorben!“, tönte die bestimmende Stimme ihrer älteren Schwester auf dem Anrufbeantworter. Sie erinnerte sich an den furchtbaren Schrecken und ihre unendliche Traurigkeit. Gefühle, die Phobie in der nächsten Sekunde überfielen und nicht mehr loslassen sollten. Sie erinnerte sich an den bitteren Geschmack des Heringsalates, welchen sie just in diesem Augenblick in der kleinen Küche ihrer Berliner Hinterhofwohnung ass. Seitdem liess sie jeder Fischsalat an den Tod der Mutter denken. Oder genauer gesagt an die ungeklärten Vorkommnisse ihres Todestages. Auch den verwirrten, entflogenen Kanarienvogel, der zugleich vehement gegen ihre Fensterscheibe hämmerte, hatte sie nicht vergessen. Ihr war, als wolle er mit seinem Klopfen nicht nur seinem Hunger und Verlorensein Ausdruck verleihen. Nein, das Federtier schien in diesem Moment die verwandelte Mutter, welche sich um ihre zurückgelassene Tochter sorgte.
„Dein Nervenkostüm mag zwar fein sein, aber die Drähte haben gehalten“, versuchte sie sich selbst aufzumuntern. Behutsam legte Phobie den Telefonhörer auf. Warum nur hatte Marlene die Wünsche ihrer Tochter nicht respektiert? Resigniert blickte sie auf den Stapel an schriftlichen Bewerbungen vor ihr liegend. Rundum Absagen. Nicht angenommen, nicht angekommen zu sein - das war ihre klägliche Grundstimmung und ihr bedrückendes Lebensfazit. Sie starrte durch das Wohnfenster ihres Elternhauses hindurch auf das verkaufte, backsteingelbe Bürogebäude. Einst hatte die Mutter dort ihr Unternehmen betrieben. Sie dachte an die nicht wenigen, vergeblichen Vorstellungsgespräche und fühlte unbändigen Zorn in sich aufsteigen. „Sie sind tatsächlich eine gelernte Ergotherapeutin?“, fragte sie eine spindeldürre Heimleiterin. Nervös in Phobies Bewerbungsmappe blätternd, während der billige Kunstschmuck an ihrem Handgelenk klimperte. „Warum sind Sie denn nicht Journalistin geblieben? Sie haben, wie mir scheint, ein bewegtes Leben hinter sich!“ Am liebsten wäre sie der ahnungslosen Frau an den Kragen gegangen, denn sie empfand sich als ein mehrfaches Opfer. Ihr fiel die staatsmännisch versammelte Tischrunde mit leitenden Pflegekräften eines anderen Heimes ein, welche sie nicht einstellen wollte. „Trauen Sie sich wirklich zu, unsere demenzerkrankten Senioren zu betreuen?“, lautete die ungeteilte Skepsis. Wie dumm, dass plötzlich die Frühlingssonne hinter den Wolken hervorbrach, durch das Fensterglas grell und stechend auf Phobies wunde Wange prallte, um spontane Muskelzuckungen auszulösen. Sie erinnerte sich an den Argwohn und die Geringschätzung einer hochbetagten Heimbewohnerin, welche den Gast mit den dunkelbraunen Haaren und der grossen Nase für eine Griechin hielt, ihn mit einem höhnisch klingenden Schalom begrüsste. An den windigen Heimleiter, der sie vier Wochen lang auf Probe, ohne Entlohnung arbeiten liess. Nicht ganz, denn als hohlen Dank hatte er ihr einen Blumenstrauss zum Abschied überreicht, den sie - schier sprachlos - auf das Grab der Eltern gelegt hatte. Phobie spürte ihre geballten Fäuste.
Um sich Luft zu verschaffen, stand sie vom Schreibtisch auf. Einem antiken Holzstück, welches einmal Michael, ihrem Vater, gehört hatte. Lief an den Stufen der fusskalten Marmortreppe vorbei. Noch Kind hatte sie eine unbestimmte, heftige Ängstlichkeit empfunden, wenn auf dem Stein die hohen Absätze der Mutter klirrten. Betrat die geräumige Küche, wo auf dem Herd eine frisch zubereitete Zwiebelsuppe brutzelte. Genussvoll atmete Phobie aus dem Topf das würzige Aroma von in Butter und Mehl gedünsteten Zwiebelschalen. Die scharfen Kräuter. Nie wieder, sagte sie sich, würde sie das Bürogebäude ihrer Mutter betreten wollen. Es war an einem kühlen Oktobertag kurz vor ihrer Beerdigung geschehen. Der Geschäftsleiter ihrer Busfirma hatte die Jalousien heruntergelassen, den Büroraum abgeschlossen. Darin auch Phobie, die davon ausgegangen war, mit dem dickbäuchigen, ihr unsympathischem Kahlkopf die unbezahlten Rechnungen durchzusehen. „Wenn du nicht machst, was ich dir sage, bekommst du Ärger mit mir“, schrie der kleinwüchsige Mann plötzlich. Fuchtelte mit einem Diktiergerät in der Hand. Eingeschüchtert blickte sie in seine starren Fischaugen. Sie hatte Angst, er könne ihr äussere Gewalt antun, denn sein Ruf als Waffennarr war bekannt. Webermann - das war einmal ein wohlklingender, prosperierender Firmenname in dem kleinen Städtchen an der Weser gewesen. Doch mit einem gewaltigen Schuldenberg an Talern hat dieser cholerische Mensch das mittelständische Unternehmen beinahe an den Rand des Ruines gebracht. Zudem hatte er mit dem Wissen von Marlene eine riesige Summe Schwarzgeld auf einem Luxemburger Konto deponiert. Was war nur geschehen? Zitternd betrachtete Phobie den tobenden Mann. Der versucht das, was er bei der Mutter nicht geschafft hatte: Mit dem unterschlagenen Geld verschwinden. Das war ihre Gedanken. Sie erinnerte sich, wie zerknirscht und niedergeschlagen Marlene in ihren letzten Lebensmonaten auf ihre Tochter gewirkt hatte. Ja, sie war am Ende ihrer Kräfte angekommen. Trotzdem hätte sie nie und nimmer ihrem Geschäftsleiter vorhandenes Kapital vermacht, geschenkt oder vererbt. In dieser eingesperrten Lage versagte Phobies Stimme zum ersten Mal. Es kam es ihr so vor, als würde sie der seit langem verstorbene Michael, dessen Lieblingstochter sie gewesen war, strafen. Weil sie sich nicht rechtzeitig um die Firma und Marlenes Not gekümmert habe. Denn wie stolz war der Vater einst auf den erarbeiteten Besitz gewesen. Ein Habenichts, welcher es nach dem grossen Krieg geschafft hatte! Als einfacher Fahrschullehrer beginnend hatte er für sich und seine Familie eine Bushalle, einen Fuhrpark und eine schmucke Villa gebaut. In bester Wohnlage am Fluss. Mit einem ansehnlichen Bauhaustouch. Michael hatte sich nun als Unternehmer entpuppt und war reich geworden, indem sich jedermann und jederfrau in eine seiner drei Filialen drängte. Allerorts beliebt brachte