Charles Dickens. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
selbst aus.
Deshalb schlug ich den Kindern vor, hereinzukommen und an meinem Tisch recht brav zu sein, und versprach, ihnen die Geschichte vom kleinen Rotkäppchen zu erzählen, während ich mich anzöge. Das taten sie auch und waren so still wie die Mäuschen, mit Einschluß Peepys, der noch zur rechten Zeit erwachte, ehe der Wolf auftrat.
Als wir hinuntergingen, sahen wir eine aus einem Trinkbecher mit der Aufschrift »Andenken an den Tunbridge-Brunnen« improvisierte Lampe auf dem Treppenabsatz blaken, und ein Mädchen, das geschwollene Gesicht mit Flanell verbunden, blies das Feuer im »Salon«, der mit Mrs. Jellybys Zimmer durch eine jetzt offene Tür in Verbindung stand, an und erstickte fast dabei. Der Kamin rauchte dermaßen, daß wir eine halbe Stunde lang hustend und tränenden Auges am offenen Fenster sitzen mußten, während Mrs. Jellyby mit unerschütterlich freundlichem Gleichmut Briefe über Afrika diktierte.
Es war ganz gut, daß sie so beschäftigt war, denn Richard erzählte uns unterdessen, daß er sich die Hände in einer Pastetenschüssel habe waschen müssen und daß sie den so emsig gesuchten Teekessel endlich auf seinem Toilettentisch gefunden hätten; und darüber mußte Ada so lachen, daß auch ich mich nicht mehr zurückhalten konnte.
Kurz nach sieben Uhr gingen wir hinunter zum Essen, vorsichtig auf Miß Jellybys Rat, denn die Treppenteppiche saßen nicht fest und waren so zerrissen, daß sie die reinsten Fußangeln bildeten.
Wir hatten einen schönen Schellfisch, Roastbeef, Koteletten und einen Pudding; ein vortreffliches Diner, wenn nicht alles fast roh gewesen wäre. Das Mädchen mit dem verbundenen Gesicht bediente und ließ alles auf den Tisch fallen, wo es gerade hinfiel, und rührte es nicht eher wieder an, bis sie es am Schluß auf die Treppe setzte. Die Person mit den Pantoffeln – wahrscheinlich die Köchin – erschien ebenfalls häufig und focht mit dem Mädchen an der Tür Scharmützel aus; und es schien ein großer Haß zwischen beiden zu herrschen.
Während des ganzen Mahles, das sehr lange dauerte, weil sich unvorhergesehene Zwischenfälle ereigneten, wie zum Beispiel, daß die Schüssel mit den Kartoffeln irrtümlich im Kohlenkasten abgesetzt und vergessen worden war und der Griff des Korkziehers abging und dem Dienstmädchen an das Kinn flog, behielt Mrs. Jellyby ihren Gleichmut unbeirrbar bei. Sie erzählte uns viel Interessantes von Borriobula-Gha und den Eingeborenen und nahm selbst bei Tisch so viele Briefe in Empfang, daß Richard, der neben ihr saß, vier Kuverts auf einmal in der Bratensauce schwimmen gesehen haben wollte.
Einige der Briefe enthielten Berichte von Damenkomitees oder Beschlüsse von Frauenversammlungen, die sie uns vorlas, – andere Anfragen von Leuten, deren Leidenschaften über gewisse, die Pflege des Kaffeestrauchs und der Eingebornen betreffende Fragen heftig erregt waren; wieder andere verlangten umgehend Antwort, und um diese auf der Stelle geben zu können, schickte Mrs. Jellyby ihre älteste Tochter drei oder vier Mal vom Essen weg zum Schreibtisch. Sie hatte unendlich viel zu tun und ging ohne Zweifel, wie sie uns gesagt hatte, in der Sache ganz auf.
Ich hätte gerne gewußt, wer der sanfte bebrillte Herr mit einer Glatze sein könnte, der sich auf einen freien Stuhl setzte, als der Fisch weggenommen war, ruhig und widerstandslos Borriobula-Gha über sich ergehen ließ, aber selbst nicht Farbe bekannte. Da er nicht ein Sterbenswörtchen sprach, hätte man ihn für einen Eingeborenen halten können, aber dem stand seine Gesichtsfarbe im Wege.
Erst als wir vom Tisch aufstanden und er allein mit Richard zurückblieb, fiel mir die Möglichkeit ein, es könne Mr. Jellyby sein.
Es war wirklich Mr. Jellyby.
Ein geschwätziger junger Mann namens Mr. Quale, mit großen, glänzenden Beulen anstatt Schläfen und zurückgebürstetem Haar, der abends zu Besuch kam, erklärte Ada, er sei Philantrop, und nannte das Ehebündnis zwischen Mrs. und Mr. Jellyby die Vereinigung von Geist und Stoff.
Dieser junge Mann wußte viel von Afrika und seinem Plane, die Kaffeeansiedler zu lehren, die Eingebornen im Drechseln von Pianofortebeinen zu unterrichten und damit einen Exporthandel zu treiben, zu erzählen. Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, Mrs. Jellyby von sich sprechen zu machen, indem er sie z. B. fragte: »Ich glaube wirklich, Mrs. Jellyby, Sie haben schon an einem Tage hundertfünfzig bis zweihundert Briefe über Afrika empfangen, nicht wahr?« Oder: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Mrs. Jellyby, so erwähnten Sie einmal, Sie hätten einmal fünftausend Zirkulare auf einen Sitz abgeschickt.« Mrs. Jellybys Antwort wiederholte er dann wie ein Dolmetscher stets noch einmal.
Den ganzen Abend saß Mr. Jellyby in einer Ecke, den Kopf gegen die Wand gelehnt, als ob er sehr niedergeschlagen wäre. Er habe mehrere Male den Mund geöffnet, erzählte uns Richard, als er mit dem Essen mit ihm allein gewesen, als hätte er etwas auf dem Herzen, aber jedes Mal habe er ihn zu Richards großer Verwirrung wortlos wieder zugemacht.
Mrs. Jellyby, in einem wahren Nest umhergestreuter Papiere sitzend, trank den ganzen Abend Kaffee und diktierte zwischendurch ihrer ältesten Tochter. Sie hatte auch eine Disputation mit Mr. Quale, die sich, soweit ich verstehen konnte, über die allgemeine Verbrüderung der Menschheit drehte, und gab einige wunderschöne Sentenzen zum besten.
Ich war keine so aufmerksame Zuhörerin, als ich hätte wünschen mögen, denn Peepy und die andern Kinder drängten sich in einer Ecke des Zimmers um Ada und mich und baten, wir möchten ihnen noch eine Geschichte erzählen. So setzten wir uns denn unter sie und erzählten ihnen flüsternd das Märchen vom gestiefelten Kater und ich weiß nicht, was sonst noch, bis sich Mrs. Jellyby ihrer zufällig erinnerte und sie zu Bett schickte. Da Peepy zu weinen anfing und nur von mir zu Bett gebracht werden wollte, so trug ich ihn hinauf, wo das Dienstmädchen mit dem verbundenen Gesicht wie ein Drache unter die kleine Schar fuhr und sie in ihre Krippen jagte.
Nachher bemühte ich mich, unser Zimmer ein bißchen hübsch zu machen und ein recht eigensinniges Feuer, das man im Kamin angezündet hatte, zum Brennen zu überreden, bis es schließlich wirklich hell aufloderte.
Als ich wieder herunterkam, bemerkte ich, daß Mrs. Jellyby mich etwas geringschätzig ansah, offenbar, weil ich so unbedeutend war.
Es war fast Mitternacht, ehe wir Gelegenheit fanden, zu Bett zu gehen, und selbst da blieb Mrs. Jellyby noch unter ihren Papieren und trank Kaffee, und ihre Tochter kaute an der Feder.
»Ein merkwürdiges Haus«, meinte Ada, als wir oben waren. »Wie seltsam von meinem Vetter Jarndyce, uns hierher zu schicken.«
»Liebe Ada«, sagte ich, »ich bin auch ganz verwirrt. Ich möchte gern daraus klug werden, aber es will mir nicht gelingen.«
»Woraus?« fragte Ada mit ihrem reizenden Lächeln.
»Aus alldem, was wir hier sehen. Es ist gewiß sehr verdienstlich von Mrs. Jellyby, sich soviel Mühe zum besten der Eingebornen zu geben – und doch – Peepy und überhaupt der Haushalt!«
Ada lachte und schlang ihren Arm um meinen Nacken, als ich vor dem Feuer stand und hineinblickte, sagte mir, ich sei ein stilles, gutes Wesen und hätte ihr Herz gewonnen. »Sie denken an alles, Esther«, sagte sie, »und sind doch so heiter. Und Sie legen überall Hand an, und so anspruchslos! Sie würden selbst dieses Haus wohnlich und gemütlich machen.«
Das einfache liebe Geschöpf! Sie war sich so gar nicht bewußt, daß sie nur sich selbst pries und vor lauter Herzensgüte soviel aus mir machte.
»Darf ich Sie etwas fragen, Ada?« sagte ich, als wir eine kleine Weile vor dem Feuer gesessen hatten.
»Aber soviel Sie wollen!«
»Wegen Ihres Vetters Mr. Jarndyce. Ich verdanke ihm soviel! Möchten Sie ihn mir nicht beschreiben.«
Ada schüttelte ihr blondes Haar aus dem Gesicht und sah mich so verwundert lachend an, daß ich selbst ganz erstaunt war – zum Teil über ihre Schönheit, zum Teil über ihre Überraschung.
»Esther!« rief sie.
»Liebe Ada?«
»Ich soll Ihnen meinen Vetter Jarndyce beschreiben?«
»Nun ja, ich habe ihn niemals gesehen.«
»Aber