Lydia. Louise AstonЧитать онлайн книгу.
ein Paar hundert oder tausend Fuß erhaben zu sein über dem Menschentroß da unten. Fand er aber gar durch Zufall eine Stelle, von der er auf das Ameisentreiben der Ebene, etwa einen hervorspringenden Felsblock, von dessen Spitze er in's Thal schauen konnte, oder eine tiefe Schlucht, die seinem Blick einen schmalen Durchgang gewährte, so konnte er Stunden lang dort sitzen und beobachten und sich freuen, wie sie doch wirklich so klein seien, diese Menschen, und nicht verdienten, daß man sich mit dem Einzelnen anders beschäftigte, als um ihn zu einem Mittel zu verwenden oder ein Experiment mit ihm anzustellen. Er vergaß dabei freilich, daß, wenn diese kleinen Menschen, die er mit einiger poetischer Steigerung mit Ameisen - zuweilen auch wohl, wenn er gerade übler Laune war, mit Mistkäfern verglich, ihn dort oben zufällig erblickten, er ohne Zweifel von ihnen für eine Krähe oder sonst ein kleines Gethier gehalten werden würde, worin sie sich immer noch gerechter und toleranter bewiesen als er.
Langsam und gemächlich schlendernd nach Art anderer Spaziergänger - denn er wußte wohl, daß er in einem Bade durch Nichts so sehr die Aufmerksamkeit erregt hätte, als durch einen hastigen Gang - schlug Landsfeld die Richtung nach dem Rondel ein, was er, durch seinen vorzüglichen Ortssinn unterstützt, bald erreichte. Er schritt durch den kleinen Durchgang und blieb an der Bank stehen, auf dem das von ihm belauschte Paar gesessen hatte. Darauf setzte er sich selbst und versank in ein tiefes Nachsinnen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, über der er die Arme verschlungen hielt; sein Blick ruhte starr und theilnahm-los auf dem Bassin, aus dessen stets bewegter Oberfläche dann und wann ein Goldfisch seinen kleinen rothen Kopf neugierig oder um Luft zu schöpfen herausstreckte. Außer dem einförmigen Plätschern des Springbrunnens, dessen herabfallender Wasserstrahl durch eine schön gearbeitete marmorne Muschel aufgefangen wurde, von der das Wasser in eine zweite größere einfloß, um endlich von dem Bassin aufgenommen zu werden, hörte man keinen Laut. Die Sonne durchglänzte nur noch die höchsten Gipfel der Bäume, denn obwohl es noch nicht spät war, nahte der Abend diesem Thale doch früher als selbst den tiefer gelegenen Gegenden, weil das in Westen sich hinein-ziehende Gebirge die Strahlen der neigenden Sonne abschnitt.
Eine Viertelstunde schon mochte Landsfeld in der bezeichneten Stellung gesessen haben, ohne daß irgend eine Bewegung verrieth, daß Leben in ihm sei, hätte nicht ein fast unmerkliches krampfhaftes Zucken der rechten Hand, die der linke Arm umfaßte, einen Beweis vom Gegentheil gegeben.
"Auch dieß Weib" - murmelte er zwischen den Zähnen, indem er aufsprang. Er warf einen forschenden Blick umher, als fürchtete er beobachtet zu werden. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst, aber in seinen Augen brannte eine dunkle verzehrende Glut. Wie um die ihn störenden Gedanken zu verscheuchen, strich er sich das über die Stirn herabgefallene Haar aus dem Gesicht und richtete sich frei und hoch auf.
Als er sich noch einmal nach dem eben verlassenen Sitz umwandte, als wollte er noch einen letzten Abschiedsblick auf ihn werfen, fiel ihm ein weißes Blatt in die Augen, welches wahrscheinlich zwischen den Fugen der Bank durchgefallen und beim Fortgehen von einer der hier früher anwesenden Personen vergessen worden war. Rasch nahm er es auf. Es war ein Billet, wie es schien von einer Damenhand geschrieben. Die Adresse fehlte. Landsfeld sah nach der Unterschrift.
"Lydia" - sagte der Baron. "Das ist ein Wink des Schicksals. Nun bei Gott, der soll mir nicht umsonst gegeben sein." Er schickte sich zu lesen an, als er plötzlich inne hielt, und, das Billet zu sich steckend, an einer Stelle, die dem kleinen Durchgange gegenüber lag, zwischen den Bäumen durchbrechend verschwand.
Einen Augenblick später erschien an dem Durchgange der junge Mann, welchen wir unter dem Namen Arthur Berger kennen gelernt haben. Er schien etwas zu suchen, denn er bückte sich unter die Bank, die so eben der Baron verlassen hatte, ging dann noch mit zur Erde gerichteten Blicken um den Teich herum und verließ endlich auf demselben Wege das Rondel. Landsfeld trat aus seinem Versteck hervor. Ein triumphirendes Lächeln lag auf seinen Zügen.
"Ich werde Dich lehren, Freund, in meinem Gehege zu jagen" sagte er, ihm nachsehend. "Unbegreiflich bleibt es mir doch, daß Alice mich um diesen blonden Schäfer aufgeben konnte. Aber sie sollen es Beide büßen" - setzte er mit einem Ausdruck innerlicher Wuth hinzu, der seinen Zügen einen wahrhaft unschönen Charakter verlieh.
Mit schnellen Schritten verließ er jetzt den Platz und schlug durch den immer dichter werdenden Park, ohne die gebahnten Fußwege, die in großen Krümmungen einander durchkreuzten, zu berücksichtigen, die Richtung nach dem Gebirge ein. Bald hatte er die Grenze des Parks, die durch eine dichte Hecke und einen hinter demselben strömenden Arm des Bergstroms gebildet wurde, erreicht. Mit kräftiger Hand bog er die Dornsträucher auseinander, um sich einen Durchgang zu verschaffen, und stand am Ufer des Flüßchens, das hier ziemlich reißend und durch mehrtägigen Regen höher als gewöhnlich angeschwollen war. Er war deshalb gezwungen, einige hundert Schritte stromaufwärts zu gehen, wo ein mächtiger Baumstamm, der theils vom Alter, theils vom Sturm gefällt zu sein schien, sich wie eine natürliche Brücke über das unter ihm dahin rauschende Wasser gelegt hatte. Indeß war der Uebergang nicht leicht. Denn durch die Feuchtigkeit von der Borke entblößt, bot die nach Oben gekehrte Seite des Stammes nur eine halbrunde, schlüpfrig glatte Fläche dar, welche zu betreten mit nicht geringer Gefahr verbunden war, da bei dem geringsten Fehltritt ein Sturz in das, wenn auch nicht tiefe, doch mit einer Menge scharfer Felstrümmer besäete Flußbett unvermeidlich war. Landsfeld wurde jedoch von keinem Gefühl weniger beherrscht als von der Furcht. Im Gegentheil suchte er gerade solche Schwierigkeiten mit einer Art von Liebhaberei auf, theils weil er in ihrer Ueberwindung die Aufregung fand, die er zum Gefühl seiner Lebenskraft brauchte, theils auch darum, weil sein Selbstgefühl durch den Gedanken erhoben wurde, daß tausend Andere an seiner Stelle davor zurück schrecken würden. Denn das Gefühl der Superiorität war dasjenige, welches bei ihm der größten und kräftigsten Nahrung bedurfte. Hätte er bei solchen Gelegenheiten Zuschauer gehabt, so würde er ohne Zweifel von dem Versuch abgestanden sein, denn Nichts erschien ihm erbärmlicher als ein leichtsinniges Renommiren. Auch achtete er die Menschen, die mit ihm nicht wetteifern konnten, viel zu wenig, um ihren Beifall nicht widerwärtig, ja selbst demüthigend zu finden. Anders wäre es vielleicht gewesen, hätte er sich von Jemandem belauscht und bewundert gewußt, der im Glauben stand, von ihm nicht bemerkt zu werden. In solchem Falle nahm er den Triumph wohl mit, da keine Demüthigung damit verbunden war. Auch hätte er dann nach der That nie zugestanden, von dem Lauscher gewußt zu haben, vielmehr versichert, daß er sie gewiß unterlassen hätte, wenn er sich nicht allein geglaubt.
Mit sicherem Fuß und festen Blick betrat er den schlüpfrigen Pfad und ging ruhig, ohne Zögern und ohne Schrecken hinüber. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stieg er nun bergan. Nach halbstündigem Steigen gelangte er auf einen schmalen, wohl nur von Hirten betretenen Fußsteig, der ihn in kurzer Zeit auf des Berges höchsten Punkt führte.
Eine herrliche Aussicht bot sich hier seinen Blicken dar. Vor ihm lag in goldig blauen Duft gehüllt der Kamm des Gebirges, der von Norden nach Süden sich hinziehend in den Strahlen der eben von den höchsten Gipfeln verschwindenden Abendsonne erglühte. Mit gekreuzten Armen betrachtete Landsfeld das feierliche schöne Schauspiel des sinkenden Gestirns, das noch einen letzten Abschiedsblick und Kuß auf die allmählich zur Ruhe versinkende Erde zu werfen schien. Die Tage seiner Jugend dämmerten in seiner Erinnerung auf mit allen ihren reinen Freuden, mit allen schuldlosen Genüssen und harmlosen Spielen. Damals auch war er auf dem Gebirge seines Vaterlandes umhergeklettert, damals auch fühlte er dies innerliche Sehnen, auf den höchsten Spitzen zu stehen und herabzublicken auf die Thäler, wenn sich die Schatten auf sie lagerten, während die Gipfel und er selbst auf ihnen noch von der dunkelsten Glut der Sonne erleuchtet wurde. Damals auch kannte er keinen größeren Schmerz als den, daß er die höchsten, schneebedeckten Gipfel nicht erreichen konnte, die weit, weit hinter ihm noch lagen und ihm in ihren weißen Häuptern bald zu winken, bald zu höhnen schienen. Damals und heut! -
Welche Bilder hatten sich seitdem durch seine Seele gedrängt, welche Reihe von Gedanken seinen Geist bestürmt! - Jene Bilder waren verblichen und verstümmelt, jene Gedanken hatten sich selbst verzehrt, oder waren von andern verzehrt worden, von scharfen, bittern, schmerzlichen Gedanken, die seine Brust ausgehöhlt und sein Herz verdorrt hatten.
Aber die Erinnerung weckte die Leichen in seiner Brust und in seinem Herzen. Wie Schatten zogen sie vor seinem innern Gesicht her, die heitern Bilder,