Der kleine Lord. Frances Hodgson BurnettЧитать онлайн книгу.
Ausdrücke, in welchen der Graf diesen Beschluß motiviert hatte, hier wörtlich zu wiederholen, sondern zog es vor, seines Auftraggebers Anerbieten in eine höflichere und mildere Form zu kleiden.
Von neuem wurde ihm etwas bänglich zu Mute, als Mrs. Errol Mary hereinrief und ihr den Befehl erteilte, den Jungen zu suchen.
»Wird nicht schwer zu finden sein,« erklärte diese, »der sitzt bei Mr. Hobbs an der Ecke auf dem hohen Stuhle an der Kasse und schwatzt von Politik oder thut sich sonstwie herum amüsieren unter der Seife oder den Lichtern oder derlei Zeug, seelenvergnügt wie alleweil.«
»Mr. Hobbs kennt ihn, seit er auf der Welt ist,« erklärte Mrs. Errol. »Er ist sehr gütig gegen Ceddie und die beiden sind große Freunde.«
Zufällig hatte Mr. Havisham im Vorüberfahren einen Blick auf das nicht sehr elegante Geschäft mit den offnen Kartoffelsäcken, Apfelfässern und dem hunderterlei Krimskrams geworfen und fühlte nun von neuem ernste Zweifel in sich aufsteigen. In England pflegen die Kinder vornehmer Eltern keinen Verkehr in Kramläden zu haben, und die Sache kam ihm nicht unbedenklich vor. Schlechte Manieren und Hang zu untergeordneter Gesellschaft wären höchst mißlich an dem Jungen; denn gerade die Neigung zu niedrigem Verkehr hatte den Grafen an seinen beiden ältesten Söhnen so tief verletzt. War es denkbar, daß der Junge derartige Anlagen von seinen Onkeln überkommen hätte statt der liebenswürdigen Eigenschaften des Vaters?
In großer innerer Unruhe setzte er sein Gespräch mit Mrs. Errol fort, bis das Kind kam, und als die Thür aufging, scheute Mr. Havisham sich förmlich, einen Blick auf Cedrik zu werfen. Für viele Leute, die den trefflichen Mann im Leben lange kannten, wäre es äußerst interessant gewesen, zu beobachten, was in ihm vorging, als er den Jungen auf seine Mutter zueilen sah – der Umschlag in seinen Gefühlen war derart, daß er ihn förmlich erschütterte. Im ersten Augenblick erkannte er, daß der kleine Geselle hübscher und vornehmer war, als er je einen gesehen, und dabei hatte seine Erscheinung etwas ganz Eigenartiges. Die kleine Gestalt war voll Anmut, Kraft und Energie; sein Köpfchen trug er hoch, und in der ganzen Haltung lag eine gewisse Tapferkeit; seinem Vater sah er überraschend ähnlich; von ihm hatte er das goldne Lockenhaar, von der Mutter die großen braunen Augen, nur daß in den seinigen auch kein Schimmer von Schüchternheit oder Trauer lag, sondern sie so unschuldig und unerschrocken in die Welt hineinschauten, als sollte ihr Träger Furcht und Sorge nie kennen lernen.
»Der hübscheste kleine Bursche, den ich je gesehen habe, und Rasse hat der Junge,« dachte Mr. Havisham bei sich, während er nichts verlauten ließ als die Worte: »Also das ist der kleine Lord Fauntleroy?«
Und je häufiger er diesen Lord Fauntleroy sah und um sich hatte, desto mehr steigerte sich sein Erstaunen; er hatte zwar in England reichlich Gelegenheit gehabt, Kinder zu sehen, hübsche, rosige kleine Mädchen und Knaben, die von Erzieherinnen und Hauslehrern korrekt am Gängelbande geführt wurden und die zum Teil scheu und schüchtern, zum Teil sehr geräuschvoll und zudringlich waren, allein großes Interesse hatten sie alle dem förmlichen, ernsthaften Advokaten nicht abgewonnen, und so hatte er in Wirklichkeit sehr wenig Erfahrung in Bezug auf kleine Leute. Vielleicht machte ihn sein persönliches Interesse an Lord Fauntleroys Geschick mehr zur Beobachtung geneigt! aber wie dem auch sei, er fand sehr viel Bemerkenswertes an dem Knaben.
Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er ein Gegenstand der Beobachtung war, und gab sich ganz wie immer. Mit seiner gewöhnlichen Herzlichkeit streckte er Mr. Havisham sein Händchen hin, als er ihm vorgestellt wurde, und antwortete auf alle Fragen mit der nämlichen Freimütigkeit und Unbefangenheit, die in seinem Verkehr mit Mr. Hobbs herrschten.
Er war weder schüchtern noch keck, und dem Advokaten fiel auf, daß er seinem Gespräch mit Mrs. Errol mit der vollen Aufmerksamkeit eines Erwachsenen folgte.
»Scheint ein frühreifes Kind zu sein,« bemerkte er gegen die Mutter.
»In manchen Beziehungen, ja,« erwiderte sie. »Er hat immer rasch begriffen und schnell gelernt und auch sehr viel mit Erwachsenen gelebt. Sehr komisch ist seine Vorliebe, allerhand lange Wörter oder Redensarten, die er irgendwo gelesen, wieder anzubringen; aber er hat auch ebensoviel Freude an Kinderspielen. Er ist ziemlich begabt, glaube ich, dabei aber ein richtiger wilder Junge.«
Bei seiner nächsten Begegnung mit ihm hatte Mr. Havisham Gelegenheit, sich von der Richtigkeit dieses Ausspruches zu überzeugen. Als am Tage darauf sein Coupé in die Straße einbog, fiel ihm plötzlich eine Gruppe kleiner Jungen in die Augen, die sichtlich in großer Erregung waren. Zwei davon standen im Begriff, einen Wettlauf zu unternehmen, und in einem derselben erkannte Mr. Havisham den jungen Lord, der an Kreischen und Lärmen keineswegs hinter seinen Kameraden zurückblieb. Er stand neben seinem Rivalen, das eine Bein im roten Strumpf schon sprungbereit ausgestreckt.
»Auf ›eins‹ macht euch fertig,« rief der starter mit gellender Stimme, »zwei – tretet vor – auf drei – los!«
Mr. Havisham fand das Interesse, mit dem er sich aus dem Wagenfenster beugte, selbst äußerst komisch; aber er hatte auch wirklich in seinem Leben nichts gesehen, wie die Art und Weise, in der die roten Beine Seiner kleinen Herrlichkeit in die Luft flogen, nachdem er sich auf das gegebene Zeichen in Bewegung gesetzt hatte. Die Händchen hielt er fest geschlossen, den Oberkörper vorgebeugt und seine blonde Mähne flog um ihn her.
»Hurra, Ced Errol!« brüllten die Jungens unter lautem Händeklatschen. »Hurra, Billy Williams! Hurra, Ceddie! Hurra, Bill! Hurra–ra–ra!«
»Ich glaube wahrhaftig, er gewinnt!« sagte Mr. Havisham, der wirklich nicht ohne Erregung die roten Beine auf und nieder fliegen sah, denen die gar nicht zu verachtenden braunen von Billy in bedenklicher Nähe folgten. »Ich möchte wahrhaftig – ich wünsche, daß er den Sieg davonträgt,« setzte er mit einem entschuldigenden Husten hinzu.
In diesem Augenblick erklang ein wildes, gellendes Geschrei aus den Kinderkehlen; mit einem letzten gewaltigen Satze hatte der künftige Graf Dorincourt den Laternenpfahl umfaßt, den sein keuchender Gegner erst ein paar Sekunden später erreichte.
»Dreimal hoch, Ceddie Errol!« brüllte die kleine Schar. »Hurra, Ceddie Errol.«
Mr. Havisham lehnte sich mit befriedigtem Lächeln in sein Wagenkissen zurück
»Bravo, Lord Fauntleroy,« sagte er.
Als das Coupé vor Mrs. Errols Hause hielt, kamen Sieger und Besiegter inmitten des Kinderhaufens einträchtiglich des Weges daher, und Cedrik redete eifrig auf Billy Williams ein. Sein siegesbewußtes kleines Gesicht war dunkelrot, die blonden Locken klebten an der feuchten Stirn, die Händchen steckten tief in den Taschen.
»Siehst du,« sagte er eben, »ich glaube, daß ich gewonnen habe, weil meine Beine ein bißchen länger sind als die deinigen. Ich glaube ganz sicher, daß es daher kommt, und dann, weißt du, bin ich auch drei Tage älter als du, und das ist auch ein Vorteil. Drei Tage bin ich älter.«
Diese Darstellung der Sachlage schien auf Billy Williams so erheiternd zu wirken, daß ihm die Welt wieder erträglich vorkam und er sogar wieder ein wenig zu schwindeln anfing, gerade als ob er die Wette gewonnen und nicht verloren hätte. Ceddie Errol bewährte auch hier wieder sein Talent, andre vergnügt zu machen i sogar im ersten Feuer des Triumphes übersah er nicht, daß dem unterliegenden Teile wohl minder fröhlich ums Herz sein möchte, und daß es dem andern ein Trost sein könnte, in äußeren Umständen die Ursache seiner Niederlage zu sehen.
Mr. Havisham hatte an diesem Morgen noch eine lange Unterredung mit dem kleinen Sieger, in deren Verlauf er mehr als einmal lächelte und sein Kinn mit der mageren Hand rieb.
Mrs. Errol war abgerufen worden, und Cedrik und der Advokat blieben miteinander allein; anfangs zerbrach sich Mr. Havisham ein wenig den Kopf, was er mit seinem jugendlichen Gefährten anfangen solle; es schwebte ihm dunkel vor, daß es vielleicht am besten wäre, ihn auf die Begegnung mit seinem Großvater und die ihm bevorstehende große Veränderung ein wenig vorzubereiten. Daß Cedrik von dem Leben, das ihn in England erwartete, und von seinem künftigen Daheim keinerlei Begriff hatte, war klar, sogar daß seine Mutter nicht unter einem Dache mit ihm wohnen würde, wußte er nicht; Mrs. Errol hielt es für besser, ihm diese Schreckenskunde vorläufig