Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle ReithЧитать онлайн книгу.
Gene, neue Umwelt
Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Lebenswissenschaften die molekularen Strukturen verschiedener Stoffgruppen ermittelt und sie verändert. Evolutionsbiologisch haben wir es mit den novel entities also mit einer Stoffgruppe zu tun, die in der Menschheitsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielte.
Unser Organismus muss sich mit evolutionär völlig neuartigen Faktoren auseinandersetzen, deren Verbreitung seit den ersten Menschenvorfahren bis zur Industrialisierung bei Null lag: Es gab diese erdölbasierten Substanzen schlichtweg nicht! |
Die immunologische Zeitenwende
Der menschliche Organismus hat sich im Lauf der Evolution mit natürlichen Reizen auseinandergesetzt und seine immunologischen Strategien darauf ausgerichtet. In seiner evolutionären Entwicklung wurde das menschliche Immun- und Entgiftungs-System weder mit Pestiziden noch mit Konservierungsstoffen noch mit synthetischen Nanopartikeln konfrontiert.
An diese quantitativ überfordernden und qualitativ schädigenden Stoffe sind wir nicht angepasst.
Synthetische Moleküle werden vom Immunsystem als fremd erkannt und bekämpft. Sie müssen durch die körpereigenen Entgiftungs-Systeme abgebaut werden, die dafür nicht ausgelegt sind. Wir sind zudem auch noch mit einem ebenfalls „altmodischen“ Stresshormon- und Entzündungssystem ausgestattet. Der Umweltmediziner Dr. Kurt E. Müller fasst zusammen:
„Für neuartige Ursachen immunologischer Auseinandersetzung (z. B. Umweltschadstoffe) ist der menschliche Organismus mit seinen entwicklungsgeschichtlich alten neurobiologischen, metabolischen, enzymatischen und immunologischen Mechanismen den rasch und vielfältig wechselnden Einflüssen der modernen Umwelt nicht adäquat adaptiert, und er nutzt die über lange Zeiträume für Infekte entwickelten Strategien für diese „neuen“ Aufgaben.“ 3.2.2/1 Müller
Der Evolutionsmediziner Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit schreibt in seinem Buch Die Steinzeit steckt uns in den Knochen:
„Wenn wir verstehen wollen, wie unser Körper funktioniert, wofür er gemacht oder nicht gemacht ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurückgehen. Manchmal nur Jahrhunderte, manchmal Hunderte Millionen Jahre.“
3.2.3 Die Exposom-Forschung
Das Humangenomprojekt
1990 begann ein internationales Forschungsprojekt, das viel öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr: Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project). } Siehe Kapitel 28 In mühseliger Kleinarbeit wurde das Genom (die Erbsubstanz) mehrerer Personen untersucht und miteinander verglichen, um herauszubekommen, welche Gene „Max Mustermann“ hat und an welchen „Genorten“ sie liegen. Da unser Organismus mehr als 100.000 Proteine benötigt, gingen die Forscher davon aus, mindestens 100.000 Gene zu finden. Die Medizin war sich sicher, mit diesem Wissen gezielt Gene zu verändern und damit ein wirksames Werkzeug für die Behandlung unzähliger Krankheiten zu erhalten. Doch mit jeder Presseerklärung schrumpfte die Anzahl der tatsächlich gefundenen Gene. Heute wissen wir:
Nur auf etwa 1 % der DNA befindet sich die Information zur Synthese von Proteinen. Diese Abschnitte werden proteincodierende Gene genannt. Menschen haben (je nach Quelle) nur ca. 21.000 bis 25.000 proteincodierende Gene. Bei den meisten weiß man nicht, welche Aufgaben sie haben. Ein wissenschaftliches Dilemma – wie können so wenige Gene unseren hochkomplexen menschlichen Organismus lenken? Bei der Umsetzung der Genom-Forschung in die Anwendung wurde immer klarer: Das Genom allein kann die Frage nach den Hauptursachen von Krankheiten nicht beantworten.
Die einfache Rechnung „Gen A macht Krankheit B“ geht nicht auf. Mittlerweile ist gut belegt, dass die Genetik nur etwa 10 % zur Krankheitsentstehung beiträgt. Nun treten zwei junge Wissenschaftsrichtungen auf den Plan, die das nahezu unüberschaubare Wechselspiel der Gene mit Umgebungsfaktoren erforschen: Die Exposom-Forschung und die Epigenetik. |
Die Epigenetik wird in Kapitel 28.2 vorgestellt: Wir wissen heute, dass Umweltfaktoren nicht nur zu bleibenden genetischen Veränderungen (Mutationen) in der Erbsubstanz führen können, sondern auch langfristige, z.T. generationenübergreifende Auswirkungen auf die Genexpression durch epigenetische Mechanismen haben: Es ist von zentraler Bedeutung, ob Gene „angeschaltet“ oder „stillgelegt“ werden.
Die Exposom-Forschung
Dr. Christopher P. Wild war bis 2019 Direktor der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation/IARC. Als Krebsspezialist war ihm bewusst, dass Lebensgewohnheiten wie Ernährung, Rauchen, Alkoholgenuss und Bewegung direkten Einfluss auf die von unserem Genom kodierten Stoffwechselaktivitäten nehmen. Während das Genom entschlüsselt werden konnte, werden die Expositionen, denen jeder Mensch lebenslang – von der Empfängnis bis zum Tod – ausgesetzt ist, bis heute nur in sehr geringem Umfang systematisch erforscht und katalogisiert. Dr. Wild schlug 2005 in einem wissenschaftlichen Artikel 3.2.3/1 Wild als übergeordneten Sammelbegriff für alle nicht-genetischen Faktoren die Bezeichnung „Exposom“ (engl. Exposome) vor, die sich aus den englischen Wörtern „exposure“ und „genome“ zusammensetzt. Im englischsprachigen Bereich wird der neue Forschungszweig als „Exposomics“ bezeichnet.
Das ExposomDas Exposom kann definiert werden als die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse und die damit verbundenen biologischen Reaktionen. Die Exposom-Forschung untersucht, wie verschiedenartige Expositionen und die individuellen Reaktionen darauf mit der Entstehung von Krankheiten zusammenhängen. |
Dr. Wild gliederte die „nicht-genetischen“ Expositionen in drei Kategorien, die ineinander verflochten sind:
1 Körpereigene Prozesse wie Stoffwechsel, endogen zirkulierende Hormone, die Körpermorphologie, körperliche Aktivität, das Darmmikrobiom, Entzündungen, Lipid-Peroxidationen, oxidativer Stress und Alterung. Diese internen Bedingungen wirken sich alle auf die zelluläre Umgebung aus. In der Literatur werden sie als Wirts- oder endogene Faktoren beschrieben.
2 Spezifische externe Expositionen wie Strahlung, Infektionserreger, chemische Kontaminanten und Umweltschadstoffe, Ernährung, Lebensstilfaktoren (z. B. Tabak, Alkohol), Beruf und medizinische Interventionen. Diese umweltbedingten Risikofaktoren sind die Schwerpunkte epidemiologischer Studien in Bezug auf Nichtübertragbare Krankheiten wie z. B. Krebs.
3 Allgemeine externe/soziale Determinanten der Gesundheit: Soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflüsse auf das Individuum, wie z. B.: Gesellschaftliches Kapitalvolumen, Bildung, finanzieller Status, psychischer und mentaler Stress, Stadt-Land-Umwelt und Klima.
Viele Expositionsfaktoren bleiben verborgen, für andere gibt es noch keine spezifischen Nachweis-Methoden. Manche Faktoren, z. B. lösliche Chemikalien, sind flüchtig oder werden rasch wieder ausgeschieden. Zudem wirken sich umweltbedingte Expositionen bei jedem Menschen u.a. aufgrund der unterschiedlichen genetischen Faktoren unterschiedlich aus. Einige Menschen werden krank, während andere mit derselben oder gar einer höheren Exposition nicht erkranken.
Paradigmenwechsel: Vom Genom zum Exposom
Das European Human Exposome Network (siehe unten) vertritt die Sichtweise, dass ein grundlegender Wandel in der Auffassung von Gesundheit notwendig sei und setzt sich für einen Wechsel vom klassischen biomedizinischen Modell „eine Exposition, eine Krankheit“ hin zu einem umfassenderen Ansatz ein. Die Einbeziehung des Exposom erlaubt einen erweiterten Blick auf die Krankheitsentstehung und ermöglicht u.a. wirksame Präventionsmaßnahmen und -konzepte für die Zukunft.
Ein ehrgeiziges Unterfangen
Vor einigen Jahren hätte man das Unterfangen, das gesamte Exposom eines Menschen zu kartieren, noch als Science fiction abgetan. Doch derzeit werden, in Analogie zu den Genomweiten Assoziationsstudien/GWAS, die heute kostengünstige und schnelle Analysen des gesamten Genoms ermöglichen, Expositionsweite Assoziationsstudien/EWAS entwickelt, um zukünftig die Gesamtheit des lebenslangen Exposom zu analysieren.
Hochdurchsatz-Technologien
In der Anfangsphase des Humangenomprojekts } Siehe Kapitel 28 arbeiteten Wissenschaftler 13 Jahre lang an der Sequenzierung des ersten Genoms – die Gesamtkosten beliefen sich auf mehr als