Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle ReithЧитать онлайн книгу.
zu integrieren, statt sie, wie bisher, als Krankheiten zweiter Klasse ins Abseits zu verschieben.Die Pandemie bietet die einmalige Gelegenheit, innovativ und umfassend eine systemmedizinische Neuorientierung zu wagen. Das Risiko, dass Deutschland in Bezug auf multisystemische (Komplex-)Erkrankungen aus kurzfristigen politischen, wirtschaftlichen und/oder standesrechtlichen Erwägungen in alten Strukturen und Denkweisen verharrt, ist jedoch gegeben.
Statistisch inexistent
Erworbene Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen gehören nicht zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen, sondern betreffen schon jetzt jeweils allein in Deutschland mehrere Hunderttausend Patienten. Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Ein ME/CFS-Register sucht man derzeit in Deutschland noch vergebens, obwohl die Erkrankung seit 1961 von der Weltgesundheits-Organisation/WHO mit Diagnose-Kode gelistet ist. Erst Ende 2020 wurden, unter dem Eindruck der Pandemie, Gelder bereitgestellt, um ein ME/CFS-Register sowie eine Biobank an der Charité Berlin und der TU München aufzubauen. Es gibt zurzeit weder ein Register zu Long-Covid noch zu Covid-bedingtem ME/CFS, das ergab die Antwort der Bundesregierung im April 2021 auf eine Kleine Anfrage der Grünen.
Dieses Vorgehen folgt dem seit Jahrzehnten bekannten Muster im Umgang mit den EmKE: Wer erkrankt und wie viele bleibt ebenso unbeantwortet wie weitergehende epidemiologische Fragestellungen. |
Die Diagnosekodes insbesondere für ME/CFS und für MCS werden in Deutschland weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben, Kranken- und Rentenkassen können keine Auskunft geben. In behördlichen Erhebungen, z. B. des Statistischen Bundesamtes, des RKI oder des Bundesgesundheitsamtes sucht man diese Erkrankungen vergebens. Sozioökonomische und geschlechtsspezifische Faktoren, Prävalenz und Versorgungslage sind unbekannt, ebenso die Suizidraten. Auch Aussagen der Bundesregierung tragen nicht zur Aufklärung bei. Genauso unklar sind die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch auch hier in vielerlei Hinsicht.
Damit sind multisystemische (Komplex-)Erkrankungen – in unterschiedlichem Ausmaß – scheinbar inexistent.Für multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke. |
Es gibt keine Zertifizierung der Bundesärztekammer für EmKE-Experten, weil es in der etablierten Medizin, wie sie in den Hochschulen vermittelt wird, weder diese Krankheits-Kategorie noch übergreifende Konzepte gibt. Die Lehrbücher schweigen, Medizinstudenten werden, wenn überhaupt nur rudimentär aufgeklärt. Wer betroffen ist, muss sich auch im Jahr 2021 verlässliche Informationen mühsam zusammensuchen.
Angesichts der derzeit täglichen Berichterstattung zur Mortalität mit oder durch COVID-19 ergibt sich für multisystemische Erkrankungen die bittere Schlussfolgerung: Keine Mortalität – keine Berichterstattung. |
Biomedizinische Forschung
Um über Erworbene multisystemische Erkrankungen aufzuklären, müssen komplexe Zusammenhänge nachprüfbar (z. B. durch Verweise auf Studien) geschildert werden. Das ist nicht immer leserfreundlich – aber notwendig. Nur Fakten können überzeugen.
Nur eine medizinische und soziale Versorgung, die auf aktuellen systemwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, kann den heutigen multisystemischen Erkrankungen gerecht werden. |
Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen, biochemischen Grundlagen, die in aktuellen Studien in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
Anders als bei Beiträgen von Wissenschaftlern, die eigene Forschungsergebnisse präsentieren und einordnen, ist dieses Buch ein bürgerwissenschaftliches Projekt, das vorhandenes, erforschtes Wissen sammelt und sowohl interdisziplinär wie auch transdisziplinär übergreifend miteinander in Beziehung setzt. Wissenschaftliche Quellen spielen also eine bedeutende Rolle, sie werden daher ausführlicher belegt und/oder zitiert als sonst üblich.
Die meisten zitierten Studien unterlagen einem sogenannten Peer-Review-Verfahren, d.h. sie wurden vor der Veröffentlichung von Experten des gleichen Fachgebietes gegengeprüft. PubMed® ist eine englischsprachige medizinische Meta-Datenbank, die biomedizinische Artikel der National Library of Medicine, NLM (auf Deutsch: Nationale Medizinische Bibliothek der Vereinigten Staaten) veröffentlicht. Anhand der Quellenangaben im Anhang können die meisten Studien kostenfrei eingesehen und ggf. heruntergeladen werden.
Die anfänglich eigene Betroffenheit, der Kontakt zu vielen schwer Erkrankten und zu mehreren Selbsthilfegruppen sowie die auf diesem Wege erlebte konkrete Not fließen als subjektive Erfahrungen der Realität in die Darstellung ein. Diese erlebte Realität spiegelt sich in den vorgelegten wissenschaftlichen internationalen Beiträgen – nicht jedoch in den deutschen behördlichen Statistiken und schon gar nicht in der medizinischen und sozialen Versorgung. Bei Behörden und Versorgungsdienstleistern sprechen wir über Leerstellen auf Basis vollkommen unzureichender, bzw. veralteter Informations- und Wissensgrundlagen. Berichte aus den Selbsthilfegruppen und Fallbeispiele zeigen jedoch, dass es diagnoseübergreifend mehrere effektive therapeutische Grundpfeiler gibt. Viele Patienten berichten, dass die (selbst organisierte und bezahlte) personalisierte Versorgung zu moderater bis massiver Verbesserung der Lebensqualität führte.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Wahrnehmung, Anerkennung und Verbesserung einer bislang ignorierten, aber sehr umfassenden gesundheitlichen Notlage. |
Wissenschaftstheoretisches Grundverständnis
Multisystem-Erkrankungen zu thematisieren, bedeutet, nicht nur medizinische, sondern auch gesundheitspolitische, sozialrechtliche, wirtschaftliche und ethische Missstände – ggf. auch wertend – zu schildern und (teilweise) Lösungen vorzuschlagen. Mein Buch ist ein Bericht über den Status quo, es richtet sich an wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Entscheider. Hunderttausende multisystemisch schwer Erkrankte sind auf den Einsatz und das Engagement dieser Akteure angewiesen.
Die notwendigen Veränderungen erfordern immense Anstrengungen. Es geht um die Schaffung eines Problembewusstseins und um die Entwicklung eines rationalen wissenschaftstheoretischen Grundverständnisses für diese Erkrankungen. Auf dieser Basis können strukturierte Rahmenbedingungen entstehen, die der Komplexität angemessen sind. |
Die etablierte Medizin
Band 1 ME/CFS erkennen und verstehen erschien 2018 und widmete sich dem „Chronischen Erschöpfungs-Syndrom“ ME/CFS. Nach der Publikation des Bandes kam es zu zahlreichen persönlichen Gesprächen. Betroffene bestätigten wiederholt das in dem Buch beschriebene nahezu komplette Versagen in Diagnostik und Therapie sowie in der Sozialversorgung. Das führt zu Chronifizierungen, zu persönlichem und familiärem Leid und zu entwürdigenden, oft jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Versorgungsleistungen.
Es gibt, wie wir sehen werden, weltweit Millionen Betroffene, jahrelange Odysseen, „doctor-hopping“, Fehlbehandlungen und (teilweise vermeidbare) Chronifizierungen. Diese Krankheits-Kategorie wird dennoch bislang weitgehend ignoriert. Die etablierte Medizin (die in den Hochschulen vermittelt wird) scheint zu kapitulieren angesichts der Komplexität multisystemischer Erkrankungen und steht ihnen konzeptlos gegenüber.Keine Eingangstür in das etablierte Gesundheitssystem ist die richtige für multisystemisch Erkrankte. |
Die übliche Standard-Diagnostik beruht auf Paradigmen, denen historisch die Infektions-Erkrankungen zugrunde liegen und sie leistet Hervorragendes bei akuten Krankheitsfällen. Sie klärt folglich die Fragen, für die diese Konzepte ausgelegt sind. Die Wirkweisen bei Erworbenen Multisystem-Erkrankungen sind jedoch aufgrund veränderter Lebens- und Umweltbedingungen vielfältiger, als es uns geradlinige Ursache-Wirkungs-Denkmodelle glauben machen wollen.
Für eine angemessene Versorgung ist eine eingehende Analyse der Komplexität selbst und deren Auswirkung auf die klinische Praxis unumgänglich. |
Es gibt derzeit keine umfassende Evaluierung der Bedürfnisse von Patienten mit komplexen/multisystemischen, bzw. -organischen Erkrankungen. Hier ist ein erweiterter diagnostischer Ansatz notwendig, der den Einsatz präziser Spitzentechnologie und geschulte, interdisziplinär arbeitende Behandler erfordert.
Systemisch