Weihnacht. Karl MayЧитать онлайн книгу.
sich selbst im Schlitten kaum auf dem engen Sitze aufrecht erhalten können. Von ihrer Einkehr bei Franzl hatte sie nichts gesagt.
»Ich bin aus Graslitz,« fuhr er fort, »und hätte sie ganz gern bis dorthin mitgenommen, aber ich mußte hier bleiben, um heut nach Heinrichsgrün zu fahren und die nächste Nacht in Neukirchen zu bleiben. Als sie erfuhr, daß ich alle Leute in Graslitz kenne, fragte sie mich nach einem Instrumentenmacher, der mit ihrem Mann verwandt ist. Sie dachte, bei ihm bleiben zu können, weil sie ihn für wohlhabend hielt; leider konnte ich ihr da keine gute Auskunft geben, denn er war nur Gehilfe und wendete seinen ganzen Verdienst dem Branntwein zu. Wegen dieser seiner Trunksucht fand er nirgends mehr Arbeit und hat sich vor ungefähr einem Jahre auf und davon gemacht, wohin, das weiß ich nicht.«
»Ist die Frau von hier weiter?«
»Ja. Der Wirt wollte sie nicht umsonst behalten, und Geld hatte sie nicht; sie dachte, unterwegs eher und leichter gute, mitleidige Leute zu finden, und es ist auch wahr, daß einsam wohnende Menschen gastlicher sind als Bewohner von Orten, wo es Gasthäuser giebt.«
»Da ihre Hoffnung auf den Verwandten nun zunichte ist, hat es eigentlich gar keinen Zweck mehr für sie, nach Graslitz zu gehen; sie ist aber wohl trotzdem hin?«
»Ja.«
»Auf dem gewöhnlichen Wege?«
»Sie wollte sich immer an der Zwoda aufwärts halten; weiter weiß ich nichts. Es ist ein wahres Herzeleid, solche Leute zu sehen! Sie wollen sich nach Bremen durchbetteln; ob sie aber hinkommen, das weiß man nicht; der Alte auf keinen Fall; ich dachte jeden Augenblick, er werde mir im Schlitten sterben. Sie sprach davon, daß sie Schiffskarten hätte; aber wenn es so langsam weitergeht wie jetzt, werden die wohl abgelaufen sein, ehe sie benützt werden können.«
Diese Bemerkung machte mich noch besorgter um die Frau, als ich bis jetzt gewesen war. Ich nahm, ohne dem Händler zu sagen, was es war, das Couvert aus der Tasche und öffnete es; ich glaubte nicht, ein Unrecht damit zu begehen. Richtig! Die bezahlten Schiffslegitimationen waren von einem New-Yorker Agenten des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd ausgestellt und die Fahrt war für die ersten Tage des Februar festgesetzt. Die Frau hatte das nicht lesen können, weil der Text englisch war.
Wir machten uns wieder auf den Weg, welcher immer am Flüßchen aufwärts führte und ziemlich beschwerlich war, weil der Schnee stellenweise knietief lag. Überall wo es menschliche Wohnungen gab oder wenn uns jemand begegnete, fragten wir und erfuhren so, daß die armen Leute mehreremal um Nachtlager gebeten hatten, aber immer abgewiesen worden waren. Die Bewohner dieser Gegend sind oder waren besonders damals selbst so arm, daß sie, zumal im Winter, kaum genug trockenes Brot für sich selber hatten.
Gegen Abend sahen wir eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle vor uns liegen, deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war. Das sah schon von außen ganz wie Hunger aus. Die kaum noch in den Rahmen hängenden Fenster hatten Risse und Löcher, welche mit Papier zugeklebt waren. Ein alter, abgemagerter Hund fuhr, als wir uns näherten, unter einer tiefen Schneewehe, wo er sein Lager hatte, hervor und vollführte mit seiner heiseren Stimme einen Lärm, auf welchen die obere Hälfte der querteiligen Thür geöffnet wurde. Das Gesicht einer alten, wie es schien, abgehärmten Frau war zu sehen.
»Gott zum Gruß, Mütterchen!« sagte ich.
»Grüß Gott,« antwortete sie. »Was wollen Sie?«
»Sind Sie die Müllerin?«
»Nein; die Mühle geht schon längst nicht mehr, denn ihr ist zwar nicht das Wasser aber das Geld ausgegangen. Ich bin nachher eingezogen, weil das Logis nichts kostet. Ich bin nämlich die Botenfrau zwischen Bleistadt und Graslitz.«
»Wir suchen einen alten Mann, eine Frau und einen Knaben, welche gestern in Bleistadt waren und nach Graslitz wollten.«
»Du lieber Gott, die, die suchen Sie? Da kommen Sie zu einer schlimmen Zeit! Mit dem Alten können Sie nicht reden, denn er liegt im Sterben. Was wollen Sie denn von der Frau?«
»Wir bringen ihr etwas, was sie verloren hat.«
»Da kommen Sie herein! Schön werden Sie es nicht bei mir finden, sondern traurig, sehr traurig.«
Sie öffnete nun auch die untere Hälfte der Thür, und wir traten in einen engen, vollständig leeren Flur, dessen Wände im Zerbröckeln waren. Durch eine höchst mangelhaft schließende Thür kamen wir in die Stube, für welche aber der Ausdruck Stall in ihrem jetzigen Zustande eine unverdiente Ehrung gewesen wäre; ich wenigstens hätte weder Pferd noch Kuh hier unterbringen mögen!
Es gab keinen Ofen, sondern einen aus Feldsteinen lose zusammengesetzten Herd, auf welchem ein Holzfeuer brannte, dessen flackernder Schein den sonst, obgleich es draußen noch ziemlich hell war, ganz dunkeln Raum zur Not erleuchtete. Von Wärme war nur wenig zu bemerken. Neben dem Herde ein paar Töpfe und Teller an der bloßen Erde, denn eine Diele gab es nicht. Am Fenster stand ein alter Tisch mit zwei schemelartigen Stühlen, und der Thür gegenüber gab es eine Lagerstätte, welche unsere Augen sofort auf sich zog. Sie bestand aus einem trockenen Laubhaufen, über den ein gewiß schon jahrelang nicht mehr weißes Betttuch gebreitet war. Einige zusammengerollte Fetzen bildeten das Kopfkissen, und die Zudecke präsentierte sich uns als die Reste eines haarlosen Männerpelzes. Auf diesem Bette lag der Greis, zu dessen Füßen der Knabe hockte, während die Frau am oberen Ende auf der Erde kniete und den Kopf ihres Vaters durch ihren untergeschobenen Arm stützte. Sie war so in ihren Schmerz versunken, daß sie sich gar nicht nach uns umblickte. Der Knabe erkannte uns und nickte uns traurig zu. Der Greis lag bewegungslos lang ausgestreckt; ob er die Augen offen hatte, konnten wir bei dem ungewissen Scheine des Feuers nicht erkennen; er sah so aus, als ob er schon tot sei.
Der Ort, wo ein Mensch im Verscheiden liegt, ist eine heilige Stätte, und wenn er auch der allerärmlichste der ganzen Erde wäre. Wir wagten nicht, laut Atem zu holen, und schlichen uns auf den Wink der Botenfrau zu den beiden Schemeln, um uns geräuschlos niederzusetzen. Sie folgte uns und flüsterte uns zu:
»Nicht wahr, es ist sehr ärmlich bei mir? Mein Schwiegersohn ist ein schlimmer Mann, der mich, seit meine Tochter tot ist, nicht mehr bei sich leidet; da habe ich mich hierher gemacht. Ich bekomme von der Gemeinde monatlich vierzig Kreuzer Almosengeld, und was ich sonst gegen den Hunger brauche, verdiene ich mir durch Botengänge. Sparen oder anschaffen kann man da aber nichts!«
»Seit wann sind diese Fremden hier?« fragte ich ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.
»Seit Mittag. Sie haben die ganze Nacht im Schnee zugebracht, und das muß der Alte nun mit dem Leben bezahlen. Sie baten um ein Plätzchen zum Ausruhen für ihn; da konnte ich nicht nein sagen.«
»Haben sie gegessen?«
»Nein, denn sie haben nichts, und ich habe heut auch nichts mehr, als nur ein Brot, welches auch schon halb alle ist. Horch!«
Der Sterbende bewegte sich und sprach halblaut abgebrochene Worte vor sich hin:
»Mich friert - - ich will sterben! - - Legt mich ins Himmelbett, und - - deckt mich mit der weichen Seidendecke zu! - - - Wenn ich dann tot bin, unterschreibt nichts, nichts - - sonst bringt er euch noch an den Bettelstab!«
Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm, wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme, weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder:
»Selig - selig ist, wer bis ans Ende - - an die - - die ewge Liebe glaubt - - -! Suchen - - suchen - - - im Verscheiden - - Erlösungsstern - - zur Herrlichkeit des Herrn - - -!«
Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:
»Er schießt, er schießt - - - spring weg, spring weg; er schießt!«
Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer, bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger, deutlicher Stimme sagen:
»Ich