Jochen Kleppers Roman "Der Vater" über den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I - Teil 2. Jochen KlepperЧитать онлайн книгу.
heraus, in den sich niemand finden konnte, sprach er zu den Generalen und Ministern: „Ihr kennt noch nicht, was in Fritzchen steckt. Ihr werdet es sehen, wenn er zur Regierung kommen wird.“
Seltsames musste in dem König vorgegangen sein.
* * *
Niemand konnte ahnen, was geschehen war.
Der König, nachdem er den Einblick in die geheimen Leiden seiner ältesten Tochter gewann, hatte sich auf eine völlig neue Weise um die Erziehung des Thronfolgers bekümmert. Einst hatte er ihr die Instruktion, nach der er selbst erzogen worden war, zugrunde gelegt, denn die stammte aus des großen Leibnitz Feder. Auch hatte er dem Sohn den Gouverneur aus seiner eigenen Kinderzeit, Graf Finckenstein, gegeben; denn der Plan und der Mann waren von dem König gut befunden. Nur dass er einige Abänderungen vornahm, wie die Erfahrungen seiner Königszeit sie ihm diktierten, und dass er dem „alten Heiligen“, Dohnas Nachfolger, noch Kalkstein und Duhan, einen preußischen Offizier und einen französischen Refugié, zur Seite gab; Duhan aber hatte er für dieses Amt vorgesehen, seit er ihm in den Laufgräben von Stralsund begegnet war, ihn kämpfen sah und nach dem Ringen eines Kriegstages mit ihm sprach.
Mit dem Knaben Friedrich Wilhelm waren – gegen den Willen der Erzieher Dohna und Finckenstein – Gala- und Parade-Examina vor König Friedrich veranstaltet und dem Prüfling Erfolge verschafft worden, die er nicht verdiente. Wählte man doch, die Lücken und Mängel zu verbergen, Formulierungen von solcher Vorsicht wie: „Seine Königliche Hoheit lernt schwer wie alle Geister, die viel Urteilskraft und Gründlichkeit zeigen!“
König Friedrich aber hatte, auf dem Throne sitzend, hochentzückt gelauscht und hielt die Prämien zur feierlichen Verteilung bereit.
Friedrich nun wurde an jedem Sonnabendmorgen über alles ausgefragt, was er in der Woche gelernt hatte. Wenn er „profitiert“ hatte, bekam er den Nachmittag frei; wenn nicht, so musste er von zwei bis sechs Uhr alles repetieren, was er vergessen hatte.
Jene Instruktion König Friedrichs I. für Friedrich Wilhelm dankte für den „Erben so vieler und großer herrlicher Lande“, den Erben, „mit dem Heil und Wohlfahrt so vieler Millionen Menschen verknüpft sind“. Sich selbst nannte er „Wir“, seinen Sohn und seine Gattin „Unseres vielgeliebten Sohnes und Unserer herzgeliebten Gemahlin Liebden“. Solchen Wortflitter entfernte König Friedrich Wilhelm. Da seine „Millionen Untertanen“ sich kaum auf zwei beliefen, nannte er sie nicht. Und weil seine Lande durchaus nicht so herrlich waren, strich er das Beiwort aus. Er schrieb „Ich“, „Meine Frau“, „Mein Sohn“. Lateinische Sentenzen sollte Friedrich nicht lernen. Gründe gab König Friedrich Wilhelm nicht an; und es hieß in seinen Randbemerkungen darüber: „Ich will auch nicht, dass mir einer davon sprechen soll.“ Er wollte, dass der Sohn in den Archiven arbeite, an den exakten Zeugnissen der wirklich erlebten Geschichte. Den Gouverneuren war aufgetragen, dem Sohn „die wahre Liebe zum Soldatenstand einzuprägen und ihm zu imprimieren, dass gleich wie nichts in der Welt, was einem jungen Prinzen Ruhm und Ehre zu geben vermag als der Degen, er vor der Welt ein verachteter Mensch sein würde, wenn er solchen nicht gleichfalls liebte und die einzige Glorie in demselben suchte“. Daneben sollte man aber auch „dahin sehen, dass er sowohl im Französischen als Teutschen eine elegante und kurze Schreibart sich angewöhne“. Vom Deutschen hatte König Friedrich I. überhaupt nicht gesprochen. König Friedrich Wilhelm aber setzte es nun an Stelle des ausgemerzten Lateins. Das Wort Eloquenz unterdrückte er. Es genügte ihm, wenn sein Sohn „alles deutlich und rein aussprechen“ lernte. Er strich eine feierliche Erörterung über das Dekorum aus, „welches ein Regierender Herr mehr als Einiger andere Mensch zu beobachten hat“, eben jenes „Mittel zwischen Majestät und Humanität“. Er sagte bloß: „Mein Sohn soll anständige Sitten und Gebärden wie auch einen guten und manierlichen, aber nicht pedantischen Umgang haben; er soll nicht menschenscheu sein, sondern die Leute, groß und klein, fein fragen; dadurch erfährt man alles und wird klug.“ Die Liebe aber, die er sich von seinem Sohne wünschte, hatte der König als brüderliche Liebe bezeichnet.
Plötzlich genügte dem König, wie in einer großen Sorge, das Bewusstsein nicht mehr, den Sohn dem verehrten eigenen Gouverneur und dem Gouverneur und seinen Helfern jene Instruktion, für die seine „Experienz“ sprach, übergeben zu haben.
Beinahe ängstlich, zum mindesten unruhig, begann er bei allen, die Prinz Friedrich näherstanden, Umfrage zu halten, als gelte es den eigenen Sohn zu entdecken; und als erwarte er davon ein gültiges Urteil, spürte König Friedrich Wilhelm selbst den privatesten Gesprächen, den zufälligen Bemerkungen nach. Friedrich lerne schwer und langsam, hieß es hier; Friedrich denke lange nach, bevor er eine Antwort gebe. Friedrich hänge eigenen Gedanken nach, wurde dort gesagt. Friedrich neige zur Abzehrung. Friedrich zeige Hang zur Schwermut. Der König erfuhr sogar von dem Schreiben eines fremden Diplomaten über seinen Jungen. Nun hatte er es schwarz auf weiß. „Ich meine“, stand in diesem Brief, „dass der Kronprinz überanstrengt wird. Ob ihn schon der König herzlich liebt, so fatiguiert er ihn mit Frühaufstehen und Strapazen den ganzen Tag dennoch dergestalt, dass der Prinz bei seinen jungen Jahren so ältlich und steif aussiehet, als ob er schon viele Kampagnen getan hätte.“
Gewiss, er hatte ihm nicht wenig zugemutet. Das wusste der König genau. Aber der wohlerwogene Lehrplan umschloss doch nur das Mindeste, Notwendigste, worin ein künftiger König von Preußen firm zu sein hatte?! Der König beriet sich mit Friedrichs Erziehern, den beiden brandenburgischen Offizieren und dem frommen Hugenotten. Klare Antwort wurde ihm auch von diesen Treuen nicht zuteil. Allmählich reimte sich der Herr zusammen, dass man die Gattin schonen wollte. Allmählich erkannte er, dass neben dem von ihm entworfenen Lehr- und Lebensplan ein völlig eigenes System einer anderen Erziehung bestand, ein heimliches System, das sich bewusst in Gegensatz zu allem stellte, was er für Friedrich erstrebte.
„Der Nachmittag soll für Fritzen sein“, hatte der Vater bestimmt. Den Nachmittag nahm sich Mama, um Friedrich zu einem würdigen Schwiegersohn des welfischen Hauses heranzubilden. Sie war entzückt, an ihren beiden ältesten Kindern eine wahre Leidenschaft für Musik zu entdecken. Der Kronprinz erhielt Sonderstunden in Klavier-, Violin- und Flötenspiel. Mama ließ ihren Ältesten in Latein unterrichten. Wie anders sollte er die Antike verstehen, die das Denken und Sinnen und jegliche Feinheit des Umgangs an den Höfen zu Paris und London bestimmte?! In ihr fand alle Große Welt die Vollendung des Gedankens und der Form, die Urbilder der Tugenden und Laster, den Ausdruck der Freuden und Schmerzen. Die Lebensregeln waren klassische Zitate. Der Neidische hieß Zoilos, der hässliche Thersites, der sieghafte Held Achill, der unglückliche Hektor.
Welche Verheißungen machte die Gattin dem Sohne, dass er ihr die Nachmittage gab, die nach des Königs Plan „für Fritzen“ sein sollten? Der König rief es, von all den Entdeckungen maßlos erregt, den Erziehern Friedrichs zu, als danke er ihnen die Schonung der Gattin nur wenig. „Sagen Sie ihm lieber“, sprach er, „dass er, gemessen an den Söhnen anderer Herrscher, den Dauphins, Infanten und Prinzen von Wales, der Thronfolger eines Bettelkönigs ist! Ich will nicht, dass mein Sohn behandelt wird wie der junge Ludwig XV., dessen geringste Taten und Gebärden die Zeitungen der Welt verkünden und den man gar „Das Kind Europas“ nennt. Ich will nicht solch schwächlichen Knaben, der durchaus nicht angestrengt werden soll und mag! Wir Brandenburger sind nicht Potentaten wie die Könige von England, Frankreich oder Spanien! Und wir gehören nicht der klassischen Geschichte an und haben mit den Kaisern oder Königen von Assyrien, Ägypten oder Rom nichts zu schaffen! Herodot und Tacitus kennen nicht die Namen von Pommern, Cleve, Magdeburg und Litauen!“
So ereiferte sich Herr Friedrich Wilhelm noch, als sein Wort vom Bettelkönig schon im Umlauf war. Die Königin aber reiste gerade heran, dem Bettellande neues Heil zu verkünden: Der Londoner Hof wollte die preußischen Königskinder zum mindesten besehen lassen! Der König von England gedachte Berlin zu besuchen!
Die Königin traf ein – Schicksalswalterin über den Thronen des nördlichen Europa, Kronenspenderin, Urmutter künftiger Dynastien – und fragte: „Wo sind meine Kinder?“
Der König hörte es, und zum ersten Male erlag er dem seligen gefahrenreichen Irrtum nicht. Auch wusste er wohl, dass Sophie Dorothea mit ihrer Frage nur die beiden Ältesten meinte.
Friedrich