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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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die ganze Menschheit in einem Zustand völliger und sorgfältig behüteter Unwissenheit über die grundlegenden Tatsachen des menschlichen Lebens und Glücks. Die Menschen um mich herum standen unter dem Druck einer unvorhergesehenen und ungehemmten Vermehrung. Sinnlose Vermehrung, das war das Grundmotiv meiner Umgebung, mein Drama, meine Atmosphäre.«

      »Sie hatten aber doch Lehrer, Priester, Ärzte und Herrscher, die sie eines Bessern hätten belehren können«, sagte Salaha.

      »Die belehrten sie keines Bessern«, erwiderte Sarnac. »Die Führer und Lenker des Lebens waren damals höchst absonderliche Leute. Es gab ihrer zahllose, aber sie leiteten niemanden. Weit davon entfernt, Männer und Frauen über eine Einschränkung der Geburten oder die Abwehr von Krankheiten zu belehren oder ein edelmütiges Zusammenarbeiten der Allgemeinheit zu fordern, traten sie solchem Fortschritt vielmehr hindernd in den Weg. Der Ort Cherry Gardens war etwa fünfzig Jahre vor meiner Geburt entstanden; aus einem winzigen Dörfchen war er zu einem sogenannten städtischen Vorort geworden. In jener alten Welt, in der es weder Freiheit noch Führung gab, wurde der Grund und Boden in Flecken der verschiedensten Art und Größe aufgeteilt, und die Besitzer konnten, abgesehen von einigen wenigen ärgerlichen und zwecklosen Einschränkungen, die ihnen auferlegt waren, damit tun, was sie wollten. In Cherry Gardens nun kauften sogenannte Häuserspekulanten Grundstücke – oftmals ganz ungeeignet für ihre Zwecke, und bauten Wohnhäuser für den zunehmenden Schwarm der Bevölkerung, die kein anderes Obdach hatte. Dieses Bauen erfolgte völlig planlos. Der eine Spekulant baute hier, der andere dort, jeder aber baute so billig als möglich und verkaufte oder vermietete, was er gebaut hatte, so teuer er konnte. Manche dieser Häuser standen in Reihen, andere voneinander getrennt, mit kleinen Privatgärten ringsherum – man nannte sie Gärten, in Wirklichkeit aber waren es verwilderte oder öde Grundstücke – eingezäunt, um fremde Leute davon fernzuhalten.«

      »Warum wollte man fremde Leute davon fernhalten?«

      »Es freute den Hausbesitzer, das zu tun – es war ihm eine Befriedigung. Dabei aber waren die Gärten keineswegs den Blicken Neugieriger verschlossen, jedermann konnte über den Zaun gucken, wenn es ihm beliebte. Und jedes Haus hatte seine eigene Küche – es gab keine öffentliche Speiseanstalt in Cherry Gardens –, sowie seine besonderen Haushaltungsgeräte. In der Regel bestand der Haushalt aus einem Mann, der außer Haus arbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – man lebte damals eigentlich nicht, um zu leben, sondern vielmehr, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen –, und nur zum Essen und zum Schlafen heimkam, und aus einer Frau, seinem Weib, die allen Dienst versah, für Nahrung sorgte, das Haus rein hielt, und so weiter, und auch Kinder gebar, eine Menge ungewollter Kinder – sie verstand es eben nicht besser. Sie war viel zu beschäftigt, als daß sie sie hätte gut pflegen können, und viele von ihnen starben. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit der Zubereitung der Mahlzeiten. Sie kochte – nun, immerhin, es war ja wohl eine Art Kochen!«

      Sarnac machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Das Essen damals! Nun ja! Jetzt hab' ich es ja jedenfalls überstanden.«

      Beryll lachte belustigt.

      »Fast jedermann litt an Verdauungsstörungen, und die Zeitungen wimmelten von Heilmittelanzeigen«, fuhr Sarnac fort, immer noch ganz düster in seiner rückblickenden Betrachtung.

      »Es wäre mir niemals eingefallen, diese Seite des Lebens der Vergangenheit ins Auge zu fassen«, meinte Heliane.

      »Sie war aber von grundlegender Bedeutung«, sagte Sarnac. »Die damalige Welt war in jeder Hinsicht krank.

      Jeden Morgen, den Sonntag ausgenommen, nachdem der Mann sich an seine Arbeit begeben hatte und die Kinder aus den Betten geholt und angezogen und die größeren in die Schule geschickt worden waren, machte die Hausfrau ein wenig Ordnung, und dann kam die Frage der Lebensmittelbeschaffung – für ihr häusliches Kochen. Jeden Werktagmorgen fuhren Männer mit kleinen Pony-Wagen oder Handkarren, die sie vor sich herschoben, die Straßen von Cherry Gardens entlang. Sie hatten Fleisch, Fische, Gemüse und Obst zum Verkauf auf ihren Karren – all das dem Wetter ausgesetzt und jeglichem Schmutz, der daher geweht kam – und riefen mit lauter Stimme aus, welche Art von Ware sie feilboten. Die Erinnerung läßt mich wieder auf dem schwarz-roten Sofa am Fenster stehen, ich bin noch einmal ein kleiner Junge. Es gab da einen Fischverkäufer, der mir besonderen Eindruck machte. Was für eine Stimme der hatte! Ich versuchte, sein prächtiges Geschrei mit meinem schrillen Kinderstimmchen nachzuahmen: ›Makrelen, kauft Makrelen, schöne Makrelen! Drei ein Shilling. Makrelen!‹

      Die Hausfrauen kamen aus den geheimen Schlupfwinkeln ihrer Wohnstätten hervor, um zu kaufen oder zu feilschen, und vertrieben sich, wie man damals sagte, bei dieser Gelegenheit ein wenig die Zeit mit den Nachbarinnen. Doch war nicht alles, was sie brauchten, bei den Straßenverkäufern zu haben. Hier setzte die Tätigkeit meines Vaters ein. Er hatte einen kleinen Laden, war ein sogenannter Krämer. Er verkaufte Obst und Gemüse, armseliges Obst und erbärmliches Gemüse, von der Art eben, wie man es damals zu ziehen verstand, ferner Kohlen, Petroleum (man benützte damals Petroleumlampen), Schokolade, Ingwerbier und andere Dinge, die für die barbarische Haushaltung jener Zeit nötig waren. Überdies handelte er mit Schnittblumen und Topfpflanzen, sowie mit Samen, Stöckchen, Bindfaden und Harken für die kleinen Gärten. Sein Laden befand sich in einer Reihe mit einer Anzahl anderer; die Häuserzeile war genau so wie eine gewöhnliche Häuserzeile im Ort, nur hatte man die Erdgeschoßräume zu Laden gemacht. Mein Vater erwarb seinen und unseren Lebensunterhalt, indem er seine Waren so billig einkaufte, als er konnte, und möglichst viel dafür zu bekommen trachtete. Es war ein sehr ärmlicher Verdienst, denn Cherry Gardens hatte außer ihm noch einige Krämer aufzuweisen, tüchtige Kerle, und wenn er zuviel Profit auf seine Waren schlug, gingen seine Kunden weiter und kauften bei seinen Konkurrenten, und er verdiente dann überhaupt nichts.

      Ich, mein Bruder und meine beiden Schwestern – meine Mutter hatte sechs Kinder geboren und vier davon waren am Leben – verbrachten unsere Tage in diesem Laden oder in dessen nächster Nähe. Im Sommer waren wir meist vor dem Hause oder in einem Zimmer oberhalb des Geschäftes, in der kalten Jahreszeit aber kostete es zuviel Geld und zuviel Mühe, in jenem Zimmer Feuer anzumachen – man heizte in ganz Cherry Gardens mit offenem Kohlenfeuer – und da mußten wir denn in die finstere unterirdische Küche, in der meine Mutter, die Ärmste, kochte, so gut sie es verstand.«

      »Ihr wart ja Höhlenbewohner!« rief Salaha.

      »Tatsächlich. Wir nahmen alle unsere Mahlzeiten in dem unterirdischen Raum ein. Im Sommer waren wir wohl sonnverbrannt und rotbäckig, im Winter aber wurden wir infolge dieses – Höhlenlebens blaß und recht mager. Mein Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich und mir riesengroß erschien, hieß Ernst, meine beiden Schwestern Fanny und Prudence. Ernst fing bald an, außer Haus zu arbeiten, etwas später ging er dann nach London, und ich sah ihn nur selten, bis zu der Zeit, da ich selbst nach London kam. Ich war das jüngste Kind. Als ich neun Jahre alt war, faßte mein Vater Mut, verwandelte Mutters Kinderwagen in einen kleinen Schubkarren und benützte ihn fortan zur Lieferung von Kohlen und ähnlichen Waren.

      Fanny, die ältere von meinen beiden Schwestern, war ein sehr hübsches Mädchen; ihre zarte Hautfarbe stand in lieblichem Gegensatz zu den natürlich gewellten braunen Haaren, die ihr Gesicht anmutig umrahmten, und sie hatte sehr dunkle blaue Augen. Auch Prudence hatte eine helle, aber viel mattere Gesichtsfarbe, und ihre Augen waren grau. Sie neckte mich viel oder nörgelte an mir herum, Fanny hingegen beachtete mich entweder gar nicht oder war sehr freundlich mit mir, und ich liebte sie innig. Merkwürdigerweise kann ich mich an das Aussehen meiner Mutter nicht deutlich erinnern, obwohl sie selbstverständlich die Hauptrolle in meinem jungen Leben spielte. Sie war mir wohl zu vertraut, als daß ich ihr die Art von Aufmerksamkeit zugewendet hätte, die dem Gedächtnis ein Bild einprägt.

      Ich lernte von meiner Familie, und zwar hauptsächlich von meiner Mutter sprechen. Keiner von uns sprach gut. Die Redewendungen, deren wir uns bedienten, waren dürftig und schlecht, wir sprachen vieles falsch aus, und lange Wörter vermieden wir, denn sie waren uns zu gefährlich und dünkten uns anmaßend. Ich hatte sehr wenig Spielzeug; ich entsinne mich einer kleinen Blechlokomotive, einiger Zinnsoldaten und einer recht spärlichen Menge von hölzernen Bauklötzen. Niemand wies mir einen bestimmten Platz an, wo ich


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