1984 - Neunzehnhundertvierundachtzig. George OrwellЧитать онлайн книгу.
war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein einziges lebendes menschliches Wesen auf seiner Seite war? Und welche Art von Wissen konnte er haben, dass die Herrschaft der Partei nicht FÜR IMMER Bestand haben würde? Wie eine Antwort fielen ihm die drei Parolen auf der weißen Fassade des Ministeriums der Wahrheit wieder ein:
KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE.
Winston nahm ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus der Tasche: Auch darauf waren, in winziger, klarer Schrift, die gleichen Slogans eingraviert, und auf der anderen Seite der Münze prangte der Kopf von Big Brother. Selbst von einem solchen kleinen Geldstück aus verfolgten diese Augen jeden; von Münzen, von Briefmarken, von Buchumschlägen, von Transparenten, von Plakaten und von der Hülle jeder Zigarettenschachtel – von überallher und ohne Unterlass: Jeder war stets beobachtet von diesen Augen und umgeben von den Stimmen aus den allgegenwärtigen Teleschirms. Schlafend oder wach, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett: kein Entkommen. Nichts gehörte einem Menschen mehr selbst, außer den paar Kubikzentimetern in seinem Schädel.
Die Sonne hatte sich weiterbewegt, und die unzähligen Fenster des Ministeriums der Wahrheit sahen ohne das auf sie scheinende Licht nun düster aus, wie die Schießscharten einer Festung. Winstons Herz stockte angesichts des Umrisses dieser gewaltigen Pyramide. Dieses Gebäude war zu stark; es konnte nicht gestürmt werden. Tausend Raketenbomben würden es nicht zerstören können. Er fragte sich wieder, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für ein imaginäres Zeitalter, das es einmal später geben könnte. Er würde nicht nur sterben, sondern gänzlich ausgelöscht werden; das Tagebuch zu Asche vergehen und er selbst zu Staub. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor es aus der Existenz getilgt würde und aus jeder Erinnerung. Wie war es möglich, sich an die Zukunft zu wenden, wenn nicht eine Spur, nicht einmal ein anonymes Wort, gekritzelt auf ein Stück Papier, körperlich erhalten blieb?
Der Teleschirm schlug 14-00. Winston musste um 14-30 wieder bei der Arbeit sein, also in zehn Minuten aufbrechen.
Merkwürdigerweise schien ihm dieses Zeitsignal neuen Mut gegeben zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit murmelte, die niemand anders jemals hören würde. Aber solange er sie aussprach, würde die Kontinuität auf eine verborgene Weise erhalten bleiben. Das menschliche Erbe wurde nicht dadurch weitergegeben, sich Gehör zu verschaffen, sondern einfach nur dadurch, bei Verstand zu bleiben. Winston ging zurück zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb:
An die Zukunft oder an die Vergangenheit; an eine Zeit, in welcher der Gedanke frei ist, in der die Menschen voneinander verschieden und nicht einsam sind – an eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und das, was geschehen ist, nicht rückgängig gemacht werden kann. Aus dem Zeitalter der Gleichförmigkeit, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter von Big Brother, aus dem Zeitalter von Doppeldenk – Seid gegrüßt!
Winston wurde klar: Er war bereits tot. Es schien ihm, dass erst dann, als er fähig geworden war, seine Gedanken auch zu formulieren, das Entscheidende geschehen war. Jede Handlung enthält alle ihre Folgen bereits in sich selbst. Er schrieb:
Gedankenverbrechen zieht nicht bloß den Tod nach sich. Gedankenverbrechen IST der Tod.
Jetzt, da sich Winston nun selbst als einen toten Mann erkannt hatte, wurde es ihm wichtig, so lange wie nur möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte beschmiert. Das war genau jene Art von Kleinigkeit, die gefährlich war: Ein schnüffelnder Eiferer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau; jemand wie die kleine Sandhaarige oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Belletristikabteilung) könnte beginnen, sich zu fragen, weshalb Winston während der Mittagspause geschrieben hatte, weshalb er ein altmodisches Gerät dafür benutzt hatte, WAS er geschrieben hatte – und dann eine Andeutung gegenüber der zuständigen Stelle machen. Er ging ins Badezimmer und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der kiesigen, dunkelbraunen Seife ab, welche dafür gut geeignet war, weil sie die Haut abraspelte wie Schleifpapier.
Er legte das Tagebuch in die Schublade. Es war völlig sinnlos, daran zu denken, es zu verstecken, aber er konnte sich zumindest vergewissern, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein quer über die Seitenenden gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze nahm er ein sicher identifizierbares weißliches Staubkorn auf und deponierte es an einer Ecke des Einbands, von der es abfallen musste, wenn jemand das Buch bewegen würde.
III
Winston träumte von seiner Mutter.
Er musste zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als sie verschwand. Sie war eine große, ausladende, eher schweigsame Frau mit langsamen Bewegungen und prächtigem hellem Haar gewesen. An seinen Vater erinnerte er sich eher undeutlich: dunkel und schmal, immer gut und zurückhaltend gekleidet (Winston waren besonders die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters im Gedächtnis geblieben) und eine Brille tragend. Winstons Eltern mussten offensichtlich von einer der ersten großen Säuberungswellen der 1950er verschluckt worden sein.
In diesem Moment nun, träumte Winston, saß seine Mutter tief unter ihm, mit seiner kleinen Schwester im Arm. Er erinnerte sich überhaupt nicht an seine Schwester, außer als winziges, schwaches Baby, immer schweigsam, mit großen, wachsamen Augen. Beide blickten zu ihm auf. Sie waren an einem unterirdischen Ort – vielleicht auf dem Grund eines Brunnens oder in einem sehr tiefen Grab – aber auf jeden Fall war es ein Ort, der sich, obwohl er bereits schon weit unter Winston lag, immer noch weiter nach unten bewegte. Seine Mutter und seine Schwester befanden sich im Salon eines sinkenden Schiffs und blickten durch das sich verdunkelnde Wasser nach oben. Es war noch Luft im Salon; sie konnten Winston noch sehen und er sie, aber die ganze Zeit über sanken sie weiter hinab, hinunter in die grüne Tiefe, die seine Mutter und seine Schwester im nächsten Augenblick für immer verschlingen würde. Er war oben im Licht und in der Luft, während sie in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Winston wusste es, und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern sehen. Es gab keinen Vorwurf, weder in ihren Gesichtern oder in ihren Herzen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bleiben konnte, und dies Teil der unvermeidlichen Ordnung der Dinge war.
Winston konnte sich nicht mehr erinnern, was genau geschehen war, aber er wusste in seinem Traum, dass auf eine ihm nicht mehr bekannte Weise die Leben seiner Mutter und seiner Schwester geopfert worden waren, um seins zu retten. Es war einer jener Träume, die unter Beibehaltung der charakteristischen Traumlandschaft eine Fortsetzung des geistigen Lebens sind und in denen Fakten und Ideen bewusst werden, die auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Winston verstand plötzlich, dass der Tod seiner Mutter, vor fast dreißig Jahren, auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die es heute nicht mehr geben konnte. Die Tragödie, so erkannte Winston nun, gehörte zu einer uralten Zeit; zu einer Zeit, als es noch Privatheit, Liebe und Freundschaft gab; einer Zeit, in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne wissen zu müssen, weshalb. Die Erinnerung an seine Mutter schmerzte Winston seinem Herzen, weil sie für ihn gestorben und er noch zu jung und selbstsüchtig gewesen war, um sie so lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte, und vielleicht auch deshalb, weil ihr Tod einer Konzeption von Loyalität entsprach, die persönlich und unveränderlich war. Solche Dinge, das verstand Winston nun deutlich, konnten heute nicht mehr geschehen, denn nun gab es nur noch Angst, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, keine tiefe oder vielschichtige Trauer mehr. Und all dies schien Winston in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu sehen, die zu ihm aufschauten durch das grüne Wasser, Hunderte von Faden tief und immer noch tiefer sinkend.
Plötzlich stand er auf einem kurzgeschnittenen, federnden Rasen, an einem Sommerabend, die schräg einfallenden Sonnenstrahlen vergoldeten den Boden. Die Landschaft, in der er sich befand, kehrte so oft in seinen Träumen wieder, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie in der realen Welt gesehen hatte oder nicht. In seinen wachen Gedanken nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen abgegraste Weide, mit einem kleinen Trampelpfad, der darüber hinwegführte,