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Der Dunkelgraf. Ludwig BechsteinЧитать онлайн книгу.

Der Dunkelgraf - Ludwig Bechstein


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Doch – sieh, wie vergeßlich das Alter ist – fast hätte ich dir unbehändigt gelassen, was ich eigens als ein Andenken dir zurückgelegt. Möge dieses Buch und mögen diese Blätter dir werth und theuer bleiben, ich gedachte mich nie von ihnen zu trennen, aber mit in die Ewigkeit hinüber kann ich sie ja doch nicht nehmen, so bewahre du sie treulich auf. Dieses Buch ist das Tagebuch meiner Großmutter, Charlotte Aemilie; sie schrieb es mit eigener Hand für ihren Sohn, meinen Vater, nieder, und meine in Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode.

      Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf’s Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot – du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! – Nun gehe – sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem wohl leben ist es längst vorüber!

      Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß mit ihren kalten Lippen auf seine Stirne, wandte sich und schritt rasch in ein Nebenzimmer, aus dem sie nicht wiederkehrte. Sie wollte keine Weichheit, sie wollte keine Thräne zeigen, vielleicht war ihr auch der Quell der Thränen längst versiegt und vertrocknet, und es schmerzte sie, die in ihrem bewegten Leben der Thränen so viele geweint, jetzt keine Thränen mehr zu haben.

      Der junge Graf nahm, was ihm gegeben war und trug es aus dem Zimmer, damit Philipp die Schriften noch recht sorglich verwahre. Auf dem Fenstergang, der nach dem Hofe hinabsah, begegnete ihm Windt mit bestürztem Gesicht.

      Schlimm! schlimm! schlimm! rief dieser aus. O daß Sie gestern schon, und nicht heute erst den gnädigen Erbherrn begrüßten – Alles, Alles – Alles stände anders. Oleum et operam perdidi! Da – junger Herr, schauen Sie hinab in den Schloßhof!

      Ludwig folgte mit den Augen dieser Aufforderung und gewahrte, daß so eben der Erbherr in seinen Reisewagen stieg, der Kammerdiener sich hinten aufschwang, der Jäger Jacob auf dem Reitpferde des Grafen saß, und die drei Reitknechte und Stalldiener auf die übrigen Pferde sich schwangen – wie die Herren Hofrath Brünings, Kammerrath Melchers und Secretär Wippermann tiefe Bücklinge vor dem Grafen machten, ein Theil der Hausdienerschaft neugierig gaffend aus Thüren und Fenstern zusah, und wie der Gebieter ohne einen Blick nach dem Gebäude herauf zu werfen, auf und davon fuhr, von seiner ganzen mitgebrachten Dienerschaft begleitet. – Als der Wagen entrollte, nahmen die Herren Beamten drunten aus Hofrath Brünings goldener Dose jeder eine Prise. – Adieu partie! rief Windt droben mit komischem Zorn und schlecht verhehltem ernstem Aerger. Der kommt sobald nicht wieder! Habe mir die Finger fast abgeschrieben, bin krank und lahm geworden, habe in Doorwerth geschmorcht und geschmachtet, bin davon eine lebendige Satyre auf meinen eigenen Namen, nämlich dürr wie ein Windspiel geworden, habe Himmel und Hölle beschworen, den regierenden Herrn zu bewegen, zur Schließung gütlichen Vergleiches hierher zu kommen, habe mir endlich die Zunge fast aus dem Halse geredet, Ihre Excellenz zu annehmbaren Vergleichsbestimmungen zu bewegen, habe auf große Kosten Ihrer Excellenz und meiner Gesundheit die schändliche Reise gemacht von Arnhem erst nach Amsterdam, dann wieder zurück nach Arnhem und über Deventer durch das reizende Over-Yssel, von dem schon die alte gereimte Schulgeographie singt:

      Over-Yssel, viel Morast,

       Macht das ganze Land verhaßt –

      und noch dazu jetzt im März, nach dem geschmolzenen Schnee – und durch die Grafschaft Lingen – auch eine schöne Gegend – und über alle tausend Teufelsnester und Sumpfmoore, so groß, daß man in jedes ein paar kleine deutsche Fürstenthümer versenken könnte – und Alles nun für nichts und wieder nichts!

      Aber, bester Herr Windt, Sie sind ja ganz außer sich! entgegnete dem Odemschöpfenden der erstaunte junge Graf. Und an all’ diesem schweren Unheil soll ich die Schuld tragen? War der Erbherr nicht schon vor dem Auftritt mit mir in Harnisch gebracht? Ich frage nicht, durch wen? denn ich habe hier nichts mehr zu fragen, noch zu sagen; doch wenn Sie mich schuldig glauben, lieber Herr Windt, so verzeihen Sie mir, denn ich bin eben im Begriff, mein Vergehen zu sühnen – ich gehe auch fort.

      Sie gehen auch fort? rief Windt ganz erstaunt aus.

      Heute noch, jetzt – in dieser Stunde – und auf immer. Mit meinem Willen sehe ich Varel nicht wieder. Haben Sie Dank, Herr Windt, für so manche mir erzeigte gütevolle Freundlichkeit, und leben Sie wohl, recht wohl, und bleiben Sie der Großmutter wie bisher der beste, treueste, redlichste Diener.

      Ludwig drückte dem alten Manne mit Wärme die Hand, und schritt von dannen, ohne die Gegenrede des von Staunen fast sprachlos Gewordenen abzuwarten. In seinem Zimmer angelangt, empfing Ludwig aus Philipp’s Hand einen Brief: er war vom Erbherrn. Ludwig steckte den Brief zu sich und befahl zu satteln. Eine halbe Stunde später sprengte er und Philipp durch das innere Thor aus dem Schlosse, sie ritten den Parkweg. Mit thränenumflorten Augen blickte Ludwig nach dem Fenster der Großmutter hinauf, droben winkte wehend ein weißes Tuch den schmerzlichen Abschiedsgruß.

      Eine Zeitlang ritt Graf Ludwig in trüben Gedanken durch die frühlingsknospende Waldung im stummen Schweigen dahin. Er fühlte, daß seine erste Jugendzeit mit jedem Schritt seines Rosses weiter hinter ihn zurücktrete, wie ein schöner Traum, daß eine eigenthümliche Welt hinter ihm sinke, in der er heimisch und glücklich gewesen war, und mit dem heutigen Tage eine neue fremde Welt sich ihm aufthue, die er noch nicht kannte und die keineswegs geneigt sein werde, ihn mit Liebe zu empfangen und auf Rosen zu betten. Bald genug erinnerte schon der immer schlechtere Weg durch das Gehölz an den rauhen Boden der Wirklichkeit, und störte gewaltsam die Erinnerungen an das entschwundene Jugendglück. Es galt, dem Schritt der Pferde mit Aufmerksamkeit zu folgen und sie so zu lenken, daß sie nicht allzutief in die zahllosen Moraststellen traten. Hie und da lagen noch von Buschwerk geschützte und gehäufte Schneemassen, die weder Sonne noch Regen bisher zu überwältigen vermochten, und so waren Herr und Diener herzlich froh, als nach einem langsamen und beschwerlichen Ritt der Waldweg ein Ende nahm und ein Gehöft erreicht wurde, das aus nur wenigen Häusern bestand und den Namen Clus führte; es saß ein gräflicher Zinsbauer dort und hielt eine kleine Schankwirthschaft.

      Dort stieg der junge Graf mit Philipp ab, damit der Knecht des Bauern die Füße der Pferde ein wenig wasche und reinige. Ludwig erging sich in seinen Gedanken, die auf’s Neue brütend und trübe wurden, in der Nähe des Gehöfts, während Philipp dem Knechte behülflich war und mit diesem und dem Bauer schwatzte, und da war ringsum nichts, was aufheiternd auf des Jünglings Seele zu wirken vermocht hätte. Selbst der klare blaue Morgenhimmel hatte getäuscht, den zahllosen Mooren des Landes waren


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