Die Kameliendame. Alexandre DumasЧитать онлайн книгу.
Während er sich die letzten Tränen trocknete und in den Spiegel blickte, fügte er hinzu:
»Und jetzt sagen Sie mir noch, daß Sie mich nicht zu kindisch finden, und erlauben Sie mir, wiederzukommen.« Traurig und bewegt blickte der junge Mann mich an. Ich hätte ihn gerne umarmt.
Abermals verschleierten Tränen seine Augen. Er sah, daß ich es bemerkte und wandte sein Gesicht ab. »Nicht doch«, sagte ich, »fassen Sie Mut.« »Adieu«, antwortete er nur.
Und mit einer heftigen Anstrengung, um nicht erneut in Tränen auszubreiten, rannte er mehr, als er ging, davon. Ich hob den Fenstervorhang und sah, wie er in den Wagen stieg, der ihn vor der Tür erwartete. Aber kaum hatte er Platz genommen, als er von neuem zu weinen begann und sein Gesicht im Taschentuch verbarg.
V
Es verging eine geraume Zeit, ohne daß ich von Armand etwas hörte. Dafür war des öfteren von Marguerite die Rede. Ich weiß nicht, ob Sie nicht auch schon die Beobachtung gemacht haben: es genügt, daß der Name eines Menschen, der Ihnen unbekannt, zumindest gleichgültig war, einmal in Ihrer Gegenwart genannt wird, und sogleich erinnern Sie sich an Einzelheiten, die sich nach und nach alle um diesen Namen gruppieren. Und alle Ihre Freunde sprechen plötzlich von einer Angelegenheit, um die sich früher niemand bekümmerte. Dann stellen Sie fest, daß Sie mit diesem Menschen fast in Berührung gekommen waren, daß er einige Male in Ihr Leben getreten ist, ohne daß Sie Notiz von ihm nahmen. Sie finden in den Ereignissen, von denen man Ihnen berichtet, eine Gleichzeitigkeit, eine nahe Beziehung zu Ereignissen Ihres eigenen Lebens. Ganz so war es bei Marguerite und mir nicht gewesen. Ich hatte sie zwar gesehen, war ihr begegnet, wußte, wie sie aussah, und kannte ihre Gewohnheiten. Aber nun war mir ihr Name seit der Versteigerung so häufig zu Ohren gekommen und hing, durch die Ereignisse, die ich im letzten Kapitel berichtet habe, mit einem so aufrichtigen Kummer zusammen, daß meine Verwunderung und meine Neugier wuchsen.
Wenn mir einer meiner Freunde begegnete, sprach ich jedesmal von Marguerite und fragte nach ihr. »Kannten Sie eine, die Marguerite Gautier hieß?«
»Die Kameliendame?«
»Ja, die.«
»Sehr gut.«
Dieses »Sehr gut« war häufig von einem bedeutsamen Lächeln begleitet, das keinen Zweifel über seine Ursache offenließ. »Was war das für ein Mädchen?« fragte ich weiter. »Ein liebes, nettes Mädchen.«
»Sonst nichts?«
»Mein Gott, ja, mehr Geist und vielleicht auch ein wenig mehr Herz als die anderen.«
»Wissen Sie nichts Näheres über sie?« »Sie hat den Baron von G... zugrunde gerichtet.« »Weiter wissen Sie nichts?«
»Sie war die Geliebte des alten Herzogs von ...«
»War sie wirklich seine Geliebte?«
»Man sagt so. Auf alle Fälle hat er ihr sehr viel Geld gegeben.«
Ich erhielt immer die gleichen, wenig besagenden Antworten. Dabei war ich doch neugierig, etwas über die Beziehungen zwischen Marguerite und Armand zu erfahren. Eines Tages begegnete ich einem jungen Mann, der nahe Beziehungen zu den stadtbekannten Weiblichkeiten unterhielt. Auch ihn fragte ich: »Kannten Sie Marguerite Gautier?«
Ich bekam das gleiche, vielsagende »Sehr gut« zur Antwort. »Was war das für ein Mädchen?«
»Ein schönes und liebes Mädchen. Ich war sehr bekümmert über ihren Tod.«
»Hatte sie nicht auch einen Liebhaber, der Armand Duval hieß?«
»War das so ein großer Blonder?«
»Ja.«
»Ja, das stimmt.«
»Wer war dieser Armand?«
»Ein junger Mann, der, glaube ich, das wenige, was er besaß, mit ihr geteilt hat. Er mußte sie dann verlassen. Es heißt, er habe darüber beinahe den Verstand verloren.«
»Und sie?«
»Man sagte, auch sie habe ihn sehr geliebt. Aber wohl so, wie diese Mädchen eben lieben. Man darf von ihnen nicht mehr verlangen, als sie geben können.«
»Was ist aus Armand geworden?«
»Das weiß ich nicht. Wir kannten ihn kaum. Er hat fünf oder sechs Monate mit Marguerite zusammengelebt, aber auf dem Lande. Als sie zurückkam, reiste er ab.«
»Und seither haben Sie ihn nie wieder gesehen?«
»Nein.«
Auch ich hatte Armand nicht wieder gesehen. Manchmal glaubte ich, als er damals bei mir war, habe die Nachricht von Marguerites Tod seine Liebe zu ihr wieder erweckt und ihn den Verlust deshalb so schmerzlich empfinden lassen. Inzwischen, so vermute ich, hatte er die Tote und auch sein Versprechen, mich wieder aufzusuchen, vergessen. Diese Vermutung wäre bei einem anderen vielleicht berechtigt gewesen. Armands Verzweiflung aber war mir echt erschienen, und, in meinenÜberlegungen von einem Extrem ins andere fallend, stellte ich mir, da ich keine Nachricht von ihm erhielt, vor, er sei vor Kummer sehr krank, ja vielleicht sogar tot. Ich interessierte mich für diesen jungen Mann, ohne sagen zu können, weshalb. Vielleicht war meine Anteilnahme nicht ohne Selbstsucht. Vielleicht auch hatte ich aus seinem Schmerz eine rührende Liebesgeschichte herausgefühlt, und die Neugier, etwas darüber zu erfahren, war die Ursache für die Sorge, die ich mir wegen Armands Schweigen machte. Da Herr Duval nicht zu mir kam, entschloß ich mich, ihn aufzusuchen.
Ein Vorwand war leicht zu finden. Unglücklicherweise wußte ich aber seine Adresse nicht, und keiner der Befragten konnte sie mir sagen.
Ich begab mich in die Rue d'Antin. Vielleicht wußte der Hausmeister von Marguerite, wo Armand wohnte. Doch der Hausmeister war erst wenige Tage im Haus und wußte ebensowenig wie ich. Ich erkundigte mich, wo man Fräulein Gautier begraben hatte. Es war auf dem Friedhof Montmartre, Inzwischen war es April geworden. Das Wetter war schön, und die Gräber lagen nicht mehr trostlos und verlassen da wie im Winter. Auch die Jahreszeit war mild genug, daß sich die Hinterbliebenen ihrer Toten erinnern und sie besuchen würden. Ich begab mich zum Friedhof und sagte mir, der bloße Anblick von Marguerites Grab würde mir zeigen, ob Armand noch trauerte. Vielleicht würde ich auch in Erfahrung bringen, was aus ihm geworden war.
Ich ging zum Aufseher und fragte, ob man am 22. Februar eine Frau namens Marguerite Gautier auf dem Friedhof Montmartre begraben habe.
Der Mann blätterte in einem dicken Folianten. Alle, die man zu dieser Stätte des Friedens bringt, werden darin eingetragen und numeriert. Er gab mir zur Antwort, daß tatsächlich am 22. Februar eine Frau dieses Namens beerdigt worden sei. Ich bat ihn, mir das Grab zu zeigen, denn es ist unmöglich, sich ohne Führer in dieser Stadt der Toten zurechtzufinden, die wie eine Stadt der Lebenden ihre Straßen hat. Der Aufseher rief einen Gärtner herbei und gab ihm die notwendigen Anweisungen. Dieser unterbrach ihn: »Ich weiß ... ich weiß... Oh, das Grab ist leicht zu erkennen«, fuhr er, zu mir gewendet, fort. »Wieso?« fragte ich ihn. »Weil es ganz andere Blumen hat als die übrigen.« »Pflegen Sie es?«
»Ja. Ich wünschte, alle Angehörigen würden sich um die Gräber ihrer Toten so kümmern wie der junge Mann, der mich mit der Pflege beauftragt hat.«
Nachdem wir durch einige Gräberreihen gegangen waren, blieb der Gärtner stehen und sagte: »Hier ist es.«
Vor mir lag ein Viereck mit so wunderschönen Blumen, daß man es niemals für ein Grab gehalten haben würde, wenn nicht ein Marmorstein mit einem Namen es als solches gekennzeichnet hätte.
Der Stein stand aufrecht, und ein Eisengitter umsäumte das über und über mit weißen Kamelien bedeckte Grab.
»"Was sagen Sie dazu?« fragte mich der Gärtner.
»Es ist wunderbar schön.«
»Ich bin beauftragt, jede Kamelie, die welk wird, zu erneuern.«
»Wer hat Ihnen diesen Auftrag gegeben?« »Ein junger Mann, der sehr viel geweint hat, als er das erstemal hier war. Offenbar einer der Bekannten der Verstorbenen.