Charles Darwin: Die Vögel und die geschlechtliche Zuchtwahl. Carles DarwinЧитать онлайн книгу.
Wir werden natürlich veranlasst, zu untersuchen, warum das Männchen in so vielen und so weit voneinander verschiedenen Klassen gieriger als das Weibchen geworden ist, so dass es das Weibchen aufsucht und den tätigeren Teil bei der ganzen Bewerbung darstellt. Es würde kein Vorteil und sogar etwas Verlust an Kraft sein, wenn beide Geschlechter gegenseitig einander suchen sollten. Warum soll aber fast immer das Männchen der suchende Teil sein? Bei Pflanzen müssen die Eier nach der Befruchtung eine Zeit lang ernährt werden, daher wird der Pollen notwendig zu den weiblichen Organen hingebracht, er wird auf die Narbe entweder durch die Tätigkeit der Insekten oder des Windes oder durch die eigenen Bewegungen der Staubfäden gebracht. Bei den Algen und anderen Pflanzen geschieht dies sogar durch die lokomotive Fähigkeit der Antherozoiden. Bei niedrig organisierten Tieren, welche beständig an einem und demselben Ort befestigt sind und getrennte Geschlechter haben, wird das männliche Element unabänderlich zum Weibchen gebracht, und wir können hiervon auch die Ursache einsehen; denn wenn die Eier selbst sich vor ihrer Befruchtung lösten und keiner späteren Ernährung oder Beschützung bedürften, so könnten sie wegen ihrer relativ bedeutenderen Größe weniger leicht transportiert werden als das männliche Element. Daher sind viele der niederen Tiere in dieser Beziehung den Pflanzen analog. [Prof. Sachs (Lehrbuch der Botanik, 1870, p. 633) bemerkt bei der Schilderung der männlichen und weiblichen reproduktiven Zellen: „es verhält sich die eine bei der Vereinigung aktiv, ... die andere erscheint bei der Vereinigung passiv“.] Da die Männchen fest angehefteter und im Wasser lebender Tiere dadurch veranlasst wurden, ihr befruchtendes Element auszustoßen, so ist es natürlich, dass diejenigen ihrer Nachkommen, welche sich in der Stufenleiter erhoben und die Fähigkeit der Ortsbewegung erlangten, dieselbe Gewohnheit beibehielten; sie werden sich den Weibchen so sehr als möglich nähern, um der Gefahr zu entgehen, dass das befruchtende Element während eines langen Weges durch das Wasser verloren geht. Bei einigen wenigen der niederen Tiere sind die Weibchen allein festgeheftet und in diesen Fällen müssen die Männchen der suchende Teil sein. In Bezug auf Formen, deren Urerzeuger ursprünglich freilebend waren, ist es aber schwer zu verstehen, warum unabänderlich die Männchen die Gewohnheit erlangt haben, sich den Weibchen zu nähern, anstatt von ihnen aufgesucht zu werden. In allen Fällen würde es indessen, damit die Männchen erfolgreich Suchende werden, notwendig sein, dass sie mit starken Leidenschaften begabt würden; die Erlangung solcher Leidenschaften würde eine natürliche Folge davon sein, dass die begierigeren Männchen eine größere Zahl von Nachkommen hinterließen, als die weniger begierigen.
Die größere Begierde des Männchens hat somit indirekt zu der viel häufigeren Entwicklung sekundärer Sexualcharaktere bei Männchen als beim Weibchen geführt. Aber die Entwicklung solcher Charaktere wird auch, wie ich nach einem langen Studium der domestizierten Tiere schließe, noch dadurch bedeutend unterstützt, dass das Männchen viel häufiger variiert als das Weibchen. Natusius, welcher eine sehr große Erfahrung hat, ist entschieden derselben Meinung. [Vorträge über Viehzucht. 1872, p. 63.] Einige gute Belege zugunsten dieser Schlussfolgerung kann man durch eine Vergleichung der beiden Geschlechter des Menschen erlangen. Während der Novara-Expedition [Reise der Novara: Anthropologischer Teil. 1867, p. 216, 269. Die Resultate wurden nach den von K. Scherzer und Schwarz angeführten Messungen berechnet von Dr. Weisbach. Über die größere Variabilität der Männchen bei domestizierten Tieren s. mein „Varieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation“. 2. Aufl. Bd. II, p. 85.] wurde eine ungeheure Zahl von Messungen der verschiedenen Körperteile bei verschiedenen Rassen angestellt; und dabei wurde gefunden, dass die Männer in beinahe allen Fällen eine größere Breite der Variation darboten als die Weiber. Ich werde aber auf diesen Gegenstand in einem späteren Kapitel zurückzukommen haben. Mr. J. Wood, [Proceedings of the Royal Society. Vol. XVI. July 1868, p. 519, 524.] welcher die Abänderungen der Muskeln beim Menschen sorgfältig verfolgt hat, druckt die Schlussfolgerung gesperrt, dass „die größte Zahl von Abnormitäten an einem einzelnen Leichnam bei den Männern gefunden wird“. Er hatte vorher bemerkt, dass „im Ganzen unter hundertundzwei Leichnamen die Varietäten mit überzähligen Bildungen ein halb Mal häufiger bei Männern vorkommen als bei Frauen, was sehr auffallend gegen die größere Häufigkeit von Varietäten mit Fehlen gewisser Teile bei Weibern kontrastiert, was vorhin besprochen wurde“. Professor Macalister bemerkt gleichfalls, [Proceed. Royal Irish Academy. Vol. X. 1868, p. 123.] dass Variationen in den Muskeln „wahrscheinlich bei Männern häufiger sind als bei Weibern“. Gewisse Muskeln, welche normal beim Menschen nicht vorhanden sind, finden sich auch häufiger beim männlichen Geschlechte entwickelt als beim weiblichen, obgleich man annimmt, dass Ausnahmen von dieser Regel vorkommen. Dr. Burt Wilder [Massachusetts Medical Society. Vol. II. No. 3. 1868, p. 9.] hat hundertzweiundfünfzig Fälle von der Entwicklung überzähliger Finger in Tabellen gebracht. Von diesen Individuen waren 86 männliche und 39, oder weniger als die Hälfte, weibliche, während die übrigbleibenden siebenundzwanzig in Bezug auf ihr Geschlecht unbekannt waren. Man darf indess nicht übersehen, dass Frauen häufiger wohl versuchen dürften, eine Missbildung dieser Art zu verheimlichen, als Männer. Ferner behauptet Dr. L. Meyer, dass die Ohren der Männer in der Form variabler sind als die der Frauen. [Virchow's Archiv. 1871, p. 488.] Endlich ist die Temperatur beim Mann variabler als bei der Frau. [Die Schlussfolgerungen, zu denen neuerdings Dr. Stockton Hough in Bezug auf die Temperatur des Menschen gelangt ist, sind mitgeteilt in: Popul. Science Review, 1. Jan. 1874, p. 97.]
Die Ursache der größeren allgemeinen Variabilität im männlichen als im weiblichen Geschlecht ist unbekannt, ausgenommen in so weit als sekundäre Geschlechtscharaktere außerordentlich variabel und gewöhnlich auf die Männchen beschränkt sind; wie wir sofort sehen werden, ist diese Tatsache bis zu einem gewissen Grade verständlich. Durch die Wirksamkeit der geschlechtlichen und der natürlichen Zuchtwahl sind männliche Tiere in vielen Fällen von ihren Weibchen sehr verschieden geworden; aber die beiden Geschlechter neigen auch, unabhängig von Zuchtwahl, infolge der Verschiedenheit der Konstitution dazu, in etwas verschiedener Weise zu variieren. Das Weibchen hat viele organische Substanz auf die Bildung seiner Eier zu verwenden, während das Männchen bedeutende Kraft aufwendet in den heftigen Kämpfen mit seinen Nebenbuhlern, im Umherwandern beim Aufsuchen des Weibchens, im Anstrengen seiner Stimme, in dem Erguss stark riechender Absonderungen usw.; auch wird dieser Aufwand gewöhnlich auf eine kurze Periode zusammengedrängt. Die bedeutende Kraft des Männchens während der Zeit der Liebe scheint häufig seine Färbung intensiver zu machen, unabhängig von irgendeinem auffallenden Unterschiede vom Weibchen. [Professor Mantegazza ist geneigt, anzunehmen (Lettera a Carlo Darwin, in: Archivio per l'Anthropologia, 1871, p. 306), dass die bei so vielen männlichen Tieren gewöhnlichen hellen Farben Folge der Gegenwart und Retention von Samenflüssigkeit bei ihnen sind; dies kann aber kaum der Fall sein; denn viele männliche Vögel, z. B. junge Fasanen, werden im Herbste ihres ersten Jahres hell gefärbt.] Beim Menschen und dann wieder so niedrig in der Stufenreihe, wie bei den Schmetterlingen, ist die Körpertemperatur beim Männchen höher als beim Weibchen, was den Menschen betrifft, in Verbindung mit einem langsameren Pulse. [In Bezug auf den Menschen s. Dr. J. Stockton Hough, dessen Folgerungen in der Popul. Science Review, 1874, p. 97 mitgeteilt sind. s. Girard's Beobachachtungen über Schmetterlinge, angeführt im Zoological Record, 1869, p. 347.] Im Großen und Ganzen ist der Aufwand an Substanz und Kraft bei beiden Geschlechtern wahrscheinlich nahezu gleich, wenngleich er auf verschiedene Weise und mit verschiedener Schnelligkeit bewirkt wird.
Es kann infolge der eben hier angeführten Ursachen kaum ausbleiben, dass die beiden Geschlechter, wenigstens während der Fortpflanzungszeit, etwas verschieden in der Konstitution sind; und obgleich sie genau den nämlichen Bedingungen ausgesetzt sein mögen, werden sie in etwas verschiedener Art zu variieren neigen. Wenn derartige Abänderungen von keinem Nutzen für eines der beiden Geschlechter sind, werden sie durch geschlechtliche oder natürliche Zuchtwahl nicht gehäuft und verstärkt werden. Nichtsdestoweniger können sie bleibend werden, wenn die erregende Ursache beständig wirkt; und in einer Übereinstimmung mit einer häufig vorkommenden Form der Vererbung können sie allein auf das Geschlecht überliefert werden, bei welchem sie zuerst auftraten. In diesem Fall gelangen die beiden Geschlechter dazu, permanente, indess bedeutungslose Verschiedenheiten der Charaktere darzubieten. Mr. Allen zeigt z. B., dass bei einer großen Anzahl von Vögeln, welche die nördlichen und südlichen Vereinigten Staaten bewohnen, die Exemplare aus dem Süden dunkler gefärbt sind, als die aus dem Norden; dies scheint das direkte Resultat der Verschiedenheiten