Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen. Johann Wolfgang von GoetheЧитать онлайн книгу.
So hat mich Uriel doch nicht betrogen.
MARQUISE. Hat Ihnen Uriel von meiner Nichte was gesagt?
GRAF. Nicht geradezu; er hat mich nur auf sie vorbereitet.
NICHTE leise zum Marquis. Um Gottes willen, der weiß alles, der wird alles verraten.
MARQUIS leise. Bleiben Sie ruhig, wir wollen hören.
GRAF. Ich war diese Tage sehr verlegen, als ich die wichtige Handlung überdachte, die noch heute vorgehen soll. – Sobald sich euch der Großkophta wird offenbart haben, wird er sich umsehen und fragen: Wo ist die Unschuldige? Wo ist die Taube? Ein unschuldiges Mädchen muß ich ihm stellen. Ich dachte hin und wider, wo ich sie finden, wie ich sie zu uns einführen wollte. Da lächelte Uriel und sagte: »Sei getrost, du wirst sie finden, ohne sie zu suchen. Wenn du von einer großen Reise zurückkehrest, wird die schönste, reinste Taube vor dir stehen.« – Alles ist eingetroffen, wie ich mir's gar nicht denken konnte. Ich komme aus Amerika zurück, und dieses unschuldige Kind steht vor mir.
MARQUIS leise. Diesmal hat Uriel gewaltig fehlgegriffen.
NICHTE leise. Ich zittre und bebe!
MARQUIS leise. So hören Sie doch aus.
MARQUISE. Dem Großkophta soll ein unschuldiges Mädchen gebracht werden? Der Großkophta kommt von Orient? Ich hoffe nicht –
GRAF zur Marquise. Entfernen Sie alle fremden, alle leichtfertigen Gedanken! Zur Nichte, sanft und freundlich. Treten Sie näher, mein Kind! nicht furchtsam, treten Sie näher! – So! – Ebenso zeigen Sie sich dem Großkophta. Seine scharfen Augen werden Sie prüfen; er wird Sie vor einen blendenden, glänzenden Kristall führen, Sie werden darin die Geister erblicken, die er beruft, Sie werden das Glück genießen, wornach andere vergebens streben, Sie werden Ihre Freunde belehren und sogleich einen großen Rang in der Gesellschaft einnehmen, in die Sie treten, Sie, die jüngste, aber auch die reinste. – – Wetten wir, Marquise! dieses Kind wird Sachen sehen, die den Domherrn höchst glücklich machen. Wetten wir, Marquise?
MARQUISE. Wetten? Mit Ihnen, der alles weiß?
NICHTE die bisher ihre Verlegenheit zu verbergen gesucht. Verschonen Sie mich, Herr Graf! Ich bitte Sie, verschonen Sie mich!
GRAF. Sein Sie getrost, gutes Kind! die Unschuld hat nichts zu fürchten!
NICHTE in der äußersten Bewegung. Ich kann die Geister nicht sehen! ich werde des Todes sein!
GRAF schmeichelnd. Fassen Sie Mut. Auch diese Furcht, diese Demut kleidet Sie schön und macht Sie würdig, vor unsre Meister zu treten! Reden Sie ihr zu, Marquise!
Die Marquise spricht heimlich mit der Nichte.
MARQUIS. Darf ich nicht auch ein Zeuge dieser Wunder sein?
GRAF. Kaum! Sie sind noch unvorbereiteter als diese Frauen. Sie haben diese ganze Zeit unsere Versammlungen gemieden.
MARQUIS. Verzeihen Sie, ich war beschäftigt.
GRAF. Sich zu putzen, das Sie den Weibern überlassen sollten.
MARQUIS. Sie sind zu strenge.
GRAF. Nicht so strenge, daß ich den ausschließen sollte, der mich noch hoffen läßt. Kommen Sie, kommen Sie! Lassen Sie uns eine Viertelstunde spazierengehn. Wenigstens muß ich Sie examinieren und vorbereiten. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehn beide!
NICHTE die den Grafen zurückhält. Ich bitte, ich beschwöre sie!
GRAF. Noch einmal, mein Kind: verlassen Sie sich auf mich, daß Ihnen nichts Schreckliches bevorsteht, daß Sie die Unsterblichen mild und freundlich finden werden. Marquise! geben Sie ihr einen Begriff von unsern Versammlungen, belehren Sie das holde Geschöpf. Unser Freund, der Domherr, fragt den Großkophta gewiß nach dem, was ihm zunächst am Herzen liegt; ich bin überzeugt, die Erscheinung wird seine Hoffnungen stärken. Er verdient, zufrieden, verdient, glücklich zu werden; und wie sehr, meine Taube, wird er Sie schätzen, wenn die Geister ihm durch Sie sein Glück verkündigen. Leben Sie wohl. Kommen Sie, Marquis!
NICHTE dem Grafen nacheilend. Herr Graf! Herr Graf!
Sechster Auftritt
Die Marquise. Die Nichte.
Nichte. Da der Graf und der Marquis abgegangen sind, bleibt sie in einer trostlosen Stellung im Hintergrunde stehen.
MARQUISE an dem vordern Teile des Theaters für sich. Ich verstehe diese Winke; ich danke dir, Graf, daß du mich für deines gleichen hältst. Dein Schade soll es nicht sein, daß du mir nutzest. – Er merkt schon lange, daß ich dem Domherrn mit der Hoffnung schmeichle, die Prinzessin für ihn zu gewinnen. Von meinem großen Plan ahnet er nichts; er glaubt, es sei auf kleine Prellereien angelegt. Nun denkt er mir zu nützen, indem er mich braucht; er gibt mir in die Hand, dem Domherrn durch meine Nichte vorzuspiegeln, was ich will, und ich kann es nicht tun, ohne den Glauben des Domherrn an die Geister zu stärken. Wohl, Graf! so müssen Kluge sich verstehen, um törichte leichtgläubige Menschen sich zu unterwerfen. Sich umkehrend. Nichtchen, wo sind Sie? Was machen Sie?
NICHTE. Ich bin verloren! Geht mit unsichern Schritten auf die Tante los und bleibt auf halbem Wege stehen.
MARQUISE. Fassen Sie sich, meine Liebe!
NICHTE. Ich kann – ich werde die Geister nicht sehen!
MARQUISE. Gutes Kind, dafür lassen Sie mich sorgen. Ich will Ihnen schon raten, schon durchhelfen.
NICHTE. Hier ist kein Rat, keine Hülfe! Retten Sie mich! Retten Sie eine Unglückliche vor öffentlicher Schmach! Der Zauberer wird mich verwerfen, ich werde keine Geister sehen! Ich werde beschämt vor allen dastehen!
MARQUISE für sich. Was kann das bedeuten?
NICHTE. Auf meinen Knien, ich bitte! Ich flehe! Erretten Sie mich! Alles will ich bekennen! Ach Tante! Ach liebe Tante! Wenn ich Sie noch so nennen darf! Sie sehen kein unschuldiges Mädchen vor sich. Verachten Sie mich nicht! Verstoßen Sie mich nicht!
MARQUISE für sich. Unerwartet genug! Gegen die Nichte. Stehn Sie auf, mein Kind!
NICHTE. Ich vermöchte nicht, wenn ich auch wollte! Meine Knie tragen mich nicht! Es tut mir wohl, so vor Ihnen zu liegen. Nur in dieser Stellung darf ich sagen: vielleicht bin ich zu entschuldigen! Meine Jugend! Meine Unerfahrenheit! Mein Zustand! Meine Leichtgläubigkeit –
MARQUISE. Unter den Augen Ihrer Mutter glaubt ich Sie sicherer als in einem Kloster. Stehen Sie auf. Sie hebt die Nichte auf.
NICHTE. Ach! Soll ich sagen, soll ich gestehn?
MARQUISE. Nun?
NICHTE. Erst seit dem Tode meiner Mutter ist die Ruhe, die Glückseligkeit von mir gewichen.
MARQUISE. Wie? Abgewendet. Sollt es möglich sein? Laut. Reden Sie weiter!
NICHTE. O Sie werden mich hassen! Sie werden mich verwerfen! Unglückseliger Tag, an dem Ihre Güte selbst mich zugrunde richtete!
MARQUISE. Erklären Sie sich!
NICHTE. O Gott! Wie schwer ist es auszusprechen, was uns ein unglücklicher Augenblick so süß vorschmeichelt! – Vergeben Sie, daß ich ihn liebenswürdig fand! Wie liebenswürdig war er! Der erste Mann, der mir die Hand mit Inbrunst drückte, mir in die Augen sah und schwur, er liebe mich. Und in welcher Zeit? In den Augenblicken, da mein Herz, von dem traurigsten Verluste lange unaussprechlich gepreßt, sich endlich in heißen Tränen Luft machte, weich, ganz weich war; da ich in der öden Welt um mich her durch die Wolken des Jammers nur Mangel und Kummer erblickte; wie erschien er mir da als ein Engel; der Mann, den ich schon in meiner Kindheit verehrt hatte, erschien als mein Tröster! Er drückte sein Herz an das meinige. – Ich vergaß, daß er nie der Meine werden konnte – daß er Ihnen angehört – Es ist ausgesprochen! – Sie wenden Ihr Gesicht von mir weg? Hassen Sie mich, ich verdiene es! Verstoßen Sie mich! Lassen Sie mich sterben! Sie wirft sich in einen Sessel.
MARQUISE für sich. Verführt – durch meinen Gemahl! – Beides überrascht