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Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt AramЧитать онлайн книгу.

Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen - Kurt Aram


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nur weil sie Deutsche sind und bleiben wollen? Hat man uns ganz und gar vergessen? Sind wir für unser Volk gar nichts mehr wert? Verlassen und wehrlos der russischen Niedertracht preisgegeben, bis wir in Sibirien erfroren, verhungert oder totgeschlagen sind?

      So und nicht anders müssen viele Tausende deutscher Männer, junge und alte, in Sibirien denken.

      * * *

      An der Madatowskij-Insel

       An der Madatowskij-Insel

      Das Hotel London in Tiflis liegt hart an einem Seitenarm der Kura.

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      Kura-Fluss

       Die Kura bildet hier eine Insel, die Madatowskij-Insel, über die die Nikolaibrücke führt. Von unserem Hotelzimmer sieht man über diese Insel die Altstadt langsam bis zur Bahn und den dahinter liegenden Hügeln, den letzten Ausläufern des hohen Kaukasus, emporklettern. Alte Häuschen mohammedanischen Stils. Dazwischen kleine Plätze, von denen die Sonne alles Grün abgefressen hat. Dahinter kahle, gelbe Hügel, die sich aus braun gebrannten Äckern und Wiesen erheben, auf denen der Sonnenbrand das letzte Leben getötet hat. Auf der Insel verwahrloste Hunde, die von Abend bis Morgen einen Heidenspektakel vollführen und tagsüber mit irgendwelchem stinkenden Raub herumliegen. Wie es früher in Konstantinopel war. In dem immer seichter werdenden Kura-Arm, der am Hotel vorbeifließt, tummeln sich am Nachmittag halb erwachsene Burschen der ärmeren Bevölkerung zusammen mit trächtigen Mutterschweinen, die ebenfalls im Wasser einige Kühlung suchen.

       Dies die Aussicht von unserem Hotelfenster, die wir anderthalb Monate auszuhalten hatten, denn so lange war es mir verboten, das Hotel zu verlassen. Nur meine Frau durfte sich auf der Straße zeigen.

      Wir starren aus dem Fenster zur Nikolaibrücke. In scharfem Trab kommt ein kleiner Wagen über die Brücke. Auf seinem Sitz thront eine Kiste. Rechts und links davon sitzen je zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr.

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      Vor dem Wagen ein berittener Kosak. Hinter ihm drei weitere Kosaken. Gleich muss es Mittag sein, denn kurz vor Mittag erscheint jeden Tag dieser kleine Wagen mit Staatsgeldern von der Bahn und fährt zur Reichsbank. Da steigt auch schon hoch oben am Berg ein blauweißes Wölkchen auf. Dann ein Kanonenschuss. Es ist Mittag.

      Frühstück im Zimmer, denn in das Restaurant dürfen wir uns nicht mehr wagen.

      Um Mittag haben wir jetzt durchschnittlich 35-40 Grad Hitze. Kein Lüftchen regt sich.

       Wieder am Fenster. Über die Nikolaibrücke bewegt sich der halbe Orient. Perser auf kleinen Eseln, die Holzkohlen befördern. Mullahs in grünen oder weißen Turbanen. Schäbige Pferde mit Wasserschläuchen über den eingesunkenen Rücken und mit dicken Bäuchen, gezerrt von braungebrannten Kerlen, die zum Schutz gegen die Sonnenglut sich weiße Tücher seltsam über Kopf und Schulter geschlagen haben. Sie gleichen alten Ägyptern. Zerlumpte Tataren in Fellmützen. Eine Kosakenpatrouille. Aber nie Militär. Das wird nur nachts befördert, und dann meist auch nicht durch die Stadt, sondern auf weiten Umwegen um die Stadt herum.

      Bunt, grell, abenteuerlich, orientalisch. Wie es Bodenstedt schon besungen hat. Aber sechs Wochen lang immer dasselbe und in unserer Verfassung, man wird immer ungeduldiger. Das Heimweh nach Deutschland wächst erst recht.

      Man setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und greift zu den Zeitungen. Wir bekommen den „Temps“. Er schimpft auf allen Seiten, in allen Rubriken auf die barbarischen Deutschen und weiß in jeder Spalte neue Ungeheuerlichkeiten über deutsche Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten zu erzählen. Es stimmt nicht freundlicher.

      Man nimmt den „Petersburger Herold“ vor, eine deutsche Zeitung. Man könnte geradeso gut die „Nowoje Wremja“ lesen. Dies Schandblatt deutscher Zunge ist nicht weniger gemein.

       Meine Frau liest mir die Londoner „Times“ vor. Es ist einfach nicht zum Aushalten. Es ist, als atme man unausgesetzt Gift ein, sowie man eins dieser Blätter in die Hand nimmt. Man fühlt, mit der Zeit wird man verrückt darüber. Keine Zeitung darf mir mehr ins Zimmer. Nur noch die Telegramme des russischen Generalstabes.

      Vier Wochen ist nun Krieg, und die Deutschen haben immer noch nicht Lüttich genommen? Was ist denn aus den deutschen Soldaten geworden? Überall werden sie zurückgeschlagen. In Ostpreußen wird schon eine russische Verwaltung eingesetzt.

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      Rennenkampff in Insterburg in Ostpreußen

      Ein Herr mit dem echt russischen Namen Müller soll diese Verwaltung leiten, und in einem Interview erklärt er, dass er alle europäischen Sprachen spreche, aber in Ostpreußen nur Russisch sprechen werde, damit sich die Deutschen dort gleich an die neue Heimat gewöhnen und erkennen, mit Deutsch ist es ganz und gar nichts mehr.

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      Paul von Rennenkampff

      Rennenkampf steht schon dicht bei Berlin. Die Franzosen haben das ganze Elsass besetzt. England hat die deutsche Handelsflotte ruiniert und bei Helgoland der deutschen Kriegsflotte eine schwere Niederlage beigebracht, von der sie sich nicht mehr erholen wird. Man rechnet stündlich damit, dass englische Kriegsschiffe die Elbe hinauffahren und Hamburg bombardieren.

       Ein bisschen viel auf einmal für einen guten Deutschen. Das kann unmöglich wahr sein. Man greift doch wieder zu den Zeitungen und forscht zwischen den Zeilen nach der Wahrheit, da sie in ihnen einfach nicht stehen kann. Da, fett gedruckt im Petersburger Herold: der deutsche Kaiser hat hundert Sozialdemokraten erschießen lassen. Dann eine fette Notiz: Revolution und Hungersnot in Berlin. Unter den Linden ist es zu wilden Straßenkämpfen gekommen. Das Militär schoss auf die Tumultuanten, die gegen den Krieg demonstrierten. Hundert Tote blieben auf dem Platz ... Schon quält Hunger die Berliner Bevölkerung. Das Pfund Rindfleisch kostet in der Reichshauptstadt jetzt schon eine Mark.

      Ich zu meiner Frau: „Sag mal, weißt du noch, was wir im Frühjahr in Berlin für ein Pfund Rindfleisch bezahlt haben?“

      Meine Frau: „Natürlich, das weiß ich noch ziemlich genau, durchschnittlich eine Mark zwanzig.“

      Meine Frau glaubt, ich bin verrückt geworden, denn ich lache, dass mir die Tränen über die Backen laufen.

      Und ich werde wieder eifriger Zeitungsleser. Die Forts von Lüttich leisten immer noch tapferen Widerstand, aber die Deutschen sind in Brüssel. Das ist zwar ohne jede Bedeutung und braucht keine Beunruhigung hervorzurufen, denn es liegt durchaus im Kriegsplan der „Verbündeten“ ... Hm, na, schön, ich habe nichts dagegen.

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       Meldung aus Paris: Die französische Regierung verlässt Paris, weil der Stadtkommandant es so wünscht, und begibt sich nach Bordeaux. Langer Bericht, wie klug die Franzosen daran tun, und wie ehrlich von der Regierung, das vor aller Welt bekanntzugeben. Man sieht, was für eine moralische Wandlung mit der großen Nation vor sich gegangen ist. 1870 leider viele Lügenberichte, jetzt diese Ehrlichkeit. Eine völlige Neugeburt der französischen Nation. Sie geht sogar wieder in die Kirchen, die überfüllt sind ... Muss das allen russischen Herzen wohl tun...

      Von Ostpreußen hört man gar nichts mehr. Der echte Russe, Herr Müller, scheint seine Abreise nach Königsberg aufgeschoben zu haben. Da dürfte etwas dazwischen gekommen sein? Wenn man nur erfahren könnte, was?

      Auf meinem Zimmer erscheint gegen Abend wieder einmal ein Pristavstellvertreter, um wieder einmal ein Protokoll mit mir aufzunehmen. Es wäre einfacher, er schriebe die früheren Protokolle ab, denn mehr erfährt er doch nicht von mir, aber dazu kann er sich nicht entschließen. Auch hat ihm die Behörde noch besondere Aufträge gegeben. Er soll in Erfahrung bringen, ob ich


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