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Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen. Paul NatorpЧитать онлайн книгу.

Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen - Paul Natorp


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mehr; kurz er wurde, trotz warmer Fürsprache Stapfers, nicht wieder nach Stanz zurückgelassen. Mit Mühe erwirkte ihm der Minister stattdessen die Erlaubnis, an den geringsten Winkelschulen des Städtchens Burgdorf seine Versuche einstweilen fortsetzen zu dürfen.

       Das kurze Wirken in Stanz, über das er in einem damals verfassten, später (1807) durch Niederer veröffentlichten Aufsatz („Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz“) höchst lebendigen Bericht gibt, wurde für das Innere seiner Absichten hochbedeutsam. Denn hier entstand ihm zuerst die Idee, die sein ganzes ferneres Wirken bestimmt und die er fortan stets als die Grundidee seiner gesamten Erziehungsforschung und Erziehungsarbeit betont: die „Idee der Elementarbildung“. Zwar ist es nicht (wie Niederer meinte und dann diesem oft nachgesprochen worden ist) etwas absolut Neues, was er von jetzt ab erstrebt. Namentlich ist seine frühere Absicht, die kindliche Unterweisung streng an die Bildung zur wirtschaftlichen Arbeit anzuknüpfen und der Wohnstubenerziehung genau nachzubilden, keineswegs aufgegeben. Aber es wird ungleich bestimmter als bisher erkannt und durchgeführt, dass die Bildung des Kopfes wie des Herzens und der Hand von den ersten, einfachsten „Elementen“ ausgehen und von da in „lückenlosem Fortschritt“ zu allen höheren Stufen erst emporsteigen muss; und die Forschung nach diesen Elementen und diesem geregelten Fortschritt ist es, die von diesem Zeitpunkt an beherrschend in die Mitte seiner praktisch-pädagogischen Versuche wie seiner theoretischen Erwägungen tritt. Eben da seine Erzieherarbeit sich an die Kleinsten der Kleinen, an die Geringsten der Geringen wandte, so war es notwendig, bis zu den denkbar schlichtesten Anfängen zurückzugehen; in diesen elementaren Anfängen aber – das erkennt er jetzt – liegt gerade die höchste Kraft; denn sie enthalten als Keime die ganze fernere Entwicklung in sich. Diese Anfänge sind in Wahrheit Ursprünge, und darum nicht bloß für den Beginn der Erziehung, sondern für ihren ganzen Verlauf vor allem anderen wichtig.

      Mit dem Begriff der „Elementarbildung“ aber entsteht ihm zugleich sein neuer Begriff der „Anschauung“, der in den früheren Schriften nur hier und da von fern anklingt, von jetzt ab aber als unterscheidender Grundbegriff der Pestalozzischen Erziehungslehre bestimmt und sicher hervortritt. Ganz falsch nimmt man Pestalozzis „Anschauung“ für ein und dasselbe mit der sinnlichen Wahrnehmung. Dass von der Erfahrung, das heißt, von den Wahrnehmungen der Sinne, alle menschliche Erkenntnis, also alle menschliche Bildung anfangen müsse, diese Einsicht war nichts weniger als neu; das hatten von Aristoteles an nicht bloß die Mehrzahl der Philosophen, sondern auch alle denkenden Pädagogen angenommen; Comenius hatte es nachdrücklich betont, und seit Rousseau und den Philanthropinisten war es sozusagen die allgemeine Losung des Zeitalters geworden.

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      Johann Amos Comenius – 1592 – 1670

      Aber für Pestalozzi bedeutet die „Anschauung“ von Anfang an mehr; sie bedeutet die Betätigung, das Zurtatwerden der Idee; diese geht nicht bloß im Lehrenden voran, als solle er sie nun in den Lernenden von außen hineinbringen, sondern sie liegt der Anlage nach ursprünglich im Lernenden selbst zugrunde, und die sinnliche „Anschauung“ ist bloß ihre Betätigung im Konkreten, an der nur darum die Idee ihm bewusst werden kann, weil sie von Anfang an als gestaltende Kraft in ihr wirkt und lebt. Diese Auffassung der „Anschauung“, die im Briefe über Stanz zum ersten Mal klar zutage tritt, versteht sich allein aus dem Zusammenhange einer idealistischen Ansicht von der Erkenntnis etwa im Sinne Kants, dessen Gedanken Pestalozzi, ohne je dem Buchstaben nach Kantianer zu sein, doch der allgemeinen Richtung nach in sich aufgenommen und als mit der uranfänglichen Tendenz seines eigenen Bestrebens einig erkannt hatte. War es doch nur die klare Konsequenz der seit der „Abendstunde“ von ihm bekannten Überzeugung, dass im „Innern der Natur“ des Menschen – jedes Menschen – von Anfang an der Keim der ganzen menschlichen Entwicklung liege, dass er hinsichtlich dieser wesentlich „Werk seiner selbst“, nicht einer ihm äußeren „Natur“ oder gar der Gesellschaft sei; dass zwar ihn die Umstände „machen“ helfen, aber nur indem zuerst er die Umstände so gemacht hat, wie sie zu seiner Bildung (die immer wesentlich Selbstbildung bleibt) ihm dienlich sind. Dieser autonomistische und damit idealistische Grundzug der Pestalozzischen Pädagogik darf nicht verwischt werden.

      * * *

      Das Wirken in Burgdorf – „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“

       Das Wirken in Burgdorf – „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“

      Pestalozzi brannte auf die vollständigere Durchführung der in Stanz nur erst begonnenen Erfahrungen. Er ging in Burgdorf sofort mit ungestümem Eifer wieder ans Werk und in immer erneuten, anfangs zwar noch unsicher tastenden Versuchen gestaltete sich seine „ Methode“ allmählich fester und fester. Schon bestimmter formuliert er jetzt jene beiden Grundforderungen: das Ausgehen von den „Elementen“ und das lückenlose, stetige Fortschreiten von diesen zu allen höheren Stufen des Unterrichts; das Prinzip des „physischen Mechanismus“, wie er in einem freilich missverständlichen und tatsächlich vielfach missverstandenen Ausdruck es nennt. Solche bestimmte „Reihenfolgen“ für die einzelnen Hauptfächer des Unterrichts festzustellen, das war jetzt das Nächste, worauf seine Forschung sich richtete, und was nach manchen vergeblichen Versuchen immer sicherer gelang. Seit dem Frühjahr 1800 half ihm dabei mit ausgezeichnetem Verständnis der treffliche Krüsi, dann Tobler und Buß, und im Oktober desselben Jahres durfte er mit diesen Gehilfen auf dem Burgdorfer Schloss, das ihm von der Regierung für seinen Zweck zur Verfügung gestellt wurde, eine eigene Anstalt eröffnen.

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      Sein Tun erregte sofort Aufmerksamkeit nicht bloß in der Schweiz, sondern weit darüber hinaus, namentlich in Deutschland; Zöglinge kamen in Fülle, Besucher drängten sich heran, die Augenzeugen seiner Versuche sein wollten und oft begeisterte Berichte über ihre Beobachtungen in die Öffentlichkeit brachten.

       Die wichtige Denkschrift „Die Methode“, datiert 27. Juni 1800, gibt zuerst von den neuen Grundsätzen seines Verfahrens Rechenschaft. Was aber hier nur erst in knappem Entwurf vorliegt, wurde dann ausführlich entwickelt in der in den ersten Monaten des neuen Jahrhunderts niedergeschriebenen, im Oktober 1801 erschienenen größeren Schrift „ Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“. Sie galt und gilt allgemein und mit Grund als Hauptdokument für das, was Pestalozzi seine „Methode“ nennt. Sie stützt sich ganz auf seine Erfahrungen und Versuche, aber sucht sich über diese doch in einigem Maße auch theoretisch klar zu werden. Das wurde ihm, dem das Theoretisieren stets ein ungewohntes Geschäft war und blieb, freilich etwas schwer, und es ist zumal bei der Eigenheit seiner Darstellung, die sehr oft den gebrauchten Kunstwörtern einen vom üblichen abweichenden Sinn beilegt, leicht begreiflich, dass über die Bedeutung seiner Prinzipien vielfach hat gestritten werden können. Doch darf jetzt so viel als ausgemacht gelten, dass seine Grundüberzeugung hinsichtlich des Entwicklungsganges der Erkenntnis die idealistische und daher wesentlich einig ist mit der Kants, die ihm auf mancherlei Wegen bekannt werden konnte und nachweislich bekannt geworden ist, die er aber schließlich weder aus Büchern noch aus persönlichen Anregungen philosophisch geschulter Freunde geschöpft, sondern, nachdem er sie sich in der Hauptsache selbständig errungen hatte, erst hinterher durch einige von Kant herrührende, übrigens nicht in buchstäblicher Fassung von ihm übernommene Formulierungen sich deutlicher zu machen versucht. Die „Form“ des Unterrichts, die er sucht, hat ihren Grund in der allgemeinen „Form“ der Erkenntnis; diese entwickelt sich zwar in und an der „Anschauung“, aber erwächst nicht aus dem Sinnlichen dieser Anschauung, sondern liegt von Anfang an in der „allgemeinen Einrichtung“ oder „Grundlage“ unseres Geistes, „vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfängt, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff auffasst“ (eine ziemlich genaue Wiedergabe des Kantschen Grundprinzips der „synthetischen Einheit“), und erst dann, durch nachfolgende Analyse, sich auch „deutlich macht“. Auf diese Weise ist jede Linie, jedes Maß, jede Zahl, jedes Wort „Resultat des Verstandes“ aus „gereiften Anschauungen“, und somit die Grundsätze des Unterrichts von der „unwandelbaren Urform der menschlichen Geistesentwicklung“ zu abstrahieren.


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