Durchhalten...!. Stefanie MünstererЧитать онлайн книгу.
ihn schrecklich vermisst und mich im Stich gelassen gefühlt hätte. Er nahm mich in den Arm, als ich weinte und ihm von meinen letzten Wochen und Monaten erzählte. Er hörte sich alles ruhig an und erklärte mir, dass er unseren zurückliegenden Streit und die Zeit des Schweigens zwischen uns anders betrachten würde. Doch Einzelheiten möchte ich hier nicht näher ausführen. Wir schlossen zum Glück wieder Frieden miteinander. Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn er ist und bleibt mein Bruder. Ich brauche ihn einfach. Auch wenn Martin ein eher introvertierter Mensch ist und er nichts dergleichen gesagt hat, denke ich, dass ihn unsere Versöhnung ebenso gefreut hat.
Meine zweijährige Psychotherapie ging zu Ende. Ich hatte alle genehmigten Stunden wahrgenommen und unglaublich viel gelernt. Über mich, meine Krankheit, meine Familie, meine Sichtweisen, mein Leben. Nun hatte ich im Juli meine allerletzte Stunde. Das fand ich zunächst schrecklich, aber meine Therapeutin war zuversichtlich, dass ich sie auch nicht weiter brauchen würde. Ich erachtete den Zeitpunkt mitten in meiner schlechten Phase als sehr ungut. Doch je länger ich darüber nachdachte, welche Inhalte wir in den letzten Sitzungen behandelt hatten, umso mehr erkannte ich, dass ich es jetzt ganz sicher alleine schaffen würde. Ich war weit davon entfernt, stabil zu sein. Weder psychisch noch physisch. Doch ich konnte mir allein weiterhelfen. Mich aus Tiefphasen herausziehen oder akzeptieren, dass ich sie ein Stück weit auch durchleben und zulassen musste. Frau K. spornte mich an, mein Leben ohne fachliche Hilfe zu meistern. Gleichwohl bot sie mir auch an, dass ich mich jederzeit bei ihr melden könne, sollte ich merken, dass ich ohne Unterstützung nicht zurechtkäme. Mit dieser Sicherheit, diesem Hintertürchen, konnte ich die Therapie gut abschließen.
Träume zu verschieben oder aufzugeben, ist schwierig. Häufig kreisten meine Gedanken noch um meinen Wunsch nach einem zweiten Baby. Und ich habe viel gehofft, gezweifelt und geträumt. Von einer Zukunft zu viert. Eines Abends konnte ich nicht einschlafen, und plötzlich war er da, dieser eine klare Gedanke: „Dieser Rückfall ist nicht der letzte, und ein weiteres Baby wird es niemals geben!“ Das war ein furchtbarer Gedanke – und doch so unglaublich wahr. Ich musste furchtbar weinen und konnte mich kaum beruhigen. Mir tat alles weh – mein Herz, mein Körper, mein Kopf. Ich weinte still in mich hinein, mein Mann schlief neben mir, und ich glaube, er hat nichts mitbekommen. Ich wollte ihn damit nicht belasten. Ich weinte sehr lange, und manchmal hatte ich das Gefühl, an meinen Tränen zu ersticken. Nun war der Moment der aufgeschobenen Entscheidung irgendwie gekommen, und es fühlte sich schrecklich an. Meine Familie und meine Freunde hörten sich geduldig meine Traurigkeit an – seit Jahren. Doch mir wurde nun mehrmals deutlich gesagt, dass es Zeit sei, mich von dem Wunsch nach einem zweiten Kind zu lösen und nach vorne zu blicken: in eine Zukunft zu dritt, mit einem wunderbaren Mann an meiner Seite und mit einem großartigen Kind. Ich solle zufrieden sein. (Diesen Hinweis fand ich damals, und auch heute beim Schreiben, schwer verdaulich. Denn sowas sagt sich leicht, wenn die eigenen Wünsche hinsichtlich Familie vollständig erfüllt wurden.)
Jahrelang hieß es, Geduld zu haben und abzuwarten. Doch Abwarten heißt, Hoffnung zu haben, hat mir Christine einmal gesagt. Ich wollte nicht mehr abwarten, ich konnte nicht mehr abwarten. Sieben Jahre lang hatte ich abgewartet und gehofft – und das war sehr anstrengend gewesen. Wahrscheinlich war ich dadurch auch anstrengend für andere. Das sollte nun ein Ende haben. Ich entschied, nun zu versuchen, meine Liebe für Kinder in erster Linie natürlich an mein eigenes, aber auch an meine Nichten und Neffen, die Kinder meiner Freunde und vielleicht auch bald wieder an die Kinder in meiner zukünftigen Arbeit weiterzugeben. Ich werde sie nicht mehr aufbewahren bis zu einem weiteren Kind, dass ich nicht bekommen kann. Zu meinem Sohn habe ich eine enge Bindung und liebe ihn über alles. Ich weiß, es wird zu keinem Kind eine so feste Bindung geben wie zu meinem eigenen, und ich hatte mir sehr gewünscht, noch einmal die Gelegenheit zu bekommen, einem kleinen Menschen so nah zu sein und vielleicht sogar einige Fehler, die ich glaube, gemacht zu haben, diesmal nicht zu machen. Doch ich bin überglücklich und dankbar, dass ich meinen Fabian habe und ihn aufwachsen sehe. Das ist Gold wert, das weiß ich.
Meinem Mann erzählte ich erst einige Zeit nach diesem einschneidenden Abend davon. Ich entschuldigte mich bei ihm, nicht in der Lage zu sein, ihm eine größere Familie zu schenken. Es war unser beider Traum, eine größere Familie zu haben. Vor einigen Monaten hatte er mir noch „versprochen“, dass wir, wenn ich sämtliche Wartezeiten überstanden hätte und alle Medikamente aus meinem Körper ausgeschieden wären, Zwillinge „basteln“ würden. Natürlich war das ein Scherz, denn das wäre schon Zufall gewesen, doch es war damals ein schöner Gedanke zwischen uns. Er hielt mich für verrückt, dass ich mich entschuldigte. Er meinte, ich hätte es mir ja nicht ausgesucht, krank zu sein. Er wollte keine Entschuldigung hören, denn es gäbe für ihn keinen Grund hierzu. Er sei sich darüber hinaus gar nicht so sicher, noch ein weiteres Kind haben zu wollen. Denn er sähe es so: Wir hätten einen wunderbaren, gesunden Sohn, und je älter er würde, desto größer würden unsere Freiheiten. Der Abstand zwischen den Kindern würde immer größer, und er wisse nicht, ob das so gut sei. Und das Entscheidendste für ihn sei, dass er mich so sehr liebe, dass er nur ungern das gesundheitliche Risiko für mich bei einer nächsten Schwangerschaft eingehen wolle. Er wolle aus reinem Egoismus kein weiteres Kind – da er mich auf gar keinen Fall verlieren wolle. Was für eine schöne Liebeserklärung! Er sei zufrieden mit unserer Familie – so, wie sie ist. Sein Wunsch nach einem weiteren Kind sei nicht so groß. Er hatte sicher mit allem recht. Ich war beruhigt, dass er keine Erwartungen an mich stellte. Das hatte er noch nie getan, doch ichbrauchte zu meiner Beruhigung noch einmal die Bestätigung. Meine Traurigkeit blieb dennoch.
In der Zeit nach dieser entscheidenden Nacht wurde mein Bedürfnis, darüber zu reden, weniger. Ich fühlte mich von manchen nicht mehr verstanden. Mittlerweile sehe ich auch ein, dass mich auch niemand verstehen kann, der nicht in der gleichen Situation ist. Das klingt vielleicht beleidigt, doch so ist es nicht. Vielleicht habe ich mit manchen auch zu viel geredet, es in gewisser Weise unbewusst ausgenutzt. Das tut mir ehrlich leid im Nachhinein.
Ich habe Fabian sehr früh bekommen, und wir waren die ersten Eltern in unserem Freundeskreis und in unserer Familie. Bei allen Kindern, die nach Fabian zur Welt kamen, zog man uns in der einen oder anderen Weise zurate. Nicht, dass ich immer alles besser wusste, nein, doch manche Entwicklungen der Kinder ähneln sich. Manchmal wurden wir auch um medizinischen Rat gefragt. Das fand ich immer schön, und es gab mir ein gutes Gefühl. Doch nun waren wir eigentlich die einzige Familie, wo kein weiteres Kind mehr nachkommt. Die Einzigen mit „nur“ einem Kind. Um Rat wurde nur noch sehr selten gefragt. Das war nicht schön, und es machte mich traurig. Ich verstehe rückblickend, dass viele nicht wussten, wie ich auf ihre Fragen reagieren würde. Ob ich dadurch vielleicht nur noch trauriger werden würde. Doch ich fühlte mich irgendwie ausgeschlossen und nutzlos.
Es war nun an der Zeit, sich zu befreien. Wir hatten noch viele Kinderklamotten und Spielsachen im Keller – einen ganzen Schrank voll. Mein Bruder und seine Frau Anita erwarteten einen Sohn, daher gab ich ihnen all unsere Sachen. Es tat weh! Ich weinte beim Ausräumen des Schranks. Der Gedanke, alles wegzugeben, war furchtbar. Denn das bedeutete, dass ich aufgab. Meinen Wunsch tatsächlich aufgab. Dass ich scheiterte. Doch ich wollte alle Sachen weggeben. Mein Bruder war erstaunt, dass ich für all die Kisten kein Geld wollte. Ich bat ihn stattdessen, dass sie vielleicht gelegentlich, wenn ihr Kleiner etwas von Fabians früheren Klamotten trägt, sie ab und zu sagen oder denken: „Süß, schau mal, wie der Fabian.“ Er versprach es mir, und mit diesem Gedanken ging es mir besser. Ich freute mich sehr auf meinen Neffen und gab trotz Trennungsschmerz die Sachen gerne für ihn her. Ich bin froh, dass Christian mir bei diesem Schritt des Ausräumens stets zur Seite stand. Er spürte immer genau, wenn ich seine Nähe brauchte. Aber er zog sich auch zurück, wenn ich manche Dinge von früher allein durchsehen und betrauern wollte.
Erneut zogen Wochen und Monate vorbei, und ich veränderte mich innerlich. Gegen Ende des Sommers wusste ich nicht mehr, ob ich überhaupt noch den Mut für eine neue Schwangerschaft aufbringen würde. Vielleicht überwog nun die Angst vor Komplikationen den Wunsch nach einer Schwangerschaft, und ich begann, mich besser zu fühlen. Nicht mehr so unter Druck, nicht mehr so als Versagerin und nicht mehr so traurig. Über dieses Thema dachte ich natürlich nach wie vor nach, doch mir kamen dabei nur noch selten die Tränen. Die Traurigkeit schwand ein wenig, und ich begann irgendwie, zu akzeptieren. Als wir am Ende der Sommerferien zwei Wochen im Urlaub mit unseren