Die Facebook-Entführung. Jürgen HoffmannЧитать онлайн книгу.
verlieren, sind besonders, man muss bei ihnen sein in diesen Momenten und ihnen klar machen, dass sie gerade dabei sind, die Welt, die wir eben noch miteinander geteilt haben, zu verlassen. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht, und wenn man nett ist, sagt man ihnen vor dem Knockout noch langsam und deutlich, dass sie nichts zu befürchten haben, „du bist gerade dabei, das Bewusstsein zu verlieren, Sebastian, aber das ist nichts, was dich zu sehr beunruhigen sollte, es ist nur eine Erfahrung, die ich dir schenke, eine Sache, durch die du ohne Schaden hindurchgehen wirst, es wird alles wieder so, wie es war, bevor du so dumm warst, diesen Drink zu nehmen. Kannst du mich noch verstehen, verstehst du, was ich dir sage? Du wirst jeden Moment das Bewusstsein verlieren, du kannst nichts dagegen tun, dafür ist es zu spät. Wenn du wieder zu dir kommst, wirst du genügend Zeit haben, gründlich nachzudenken. Wenn!“ Und so weiter, und so weiter, Sebastian glotzte mich an, packte mich an der Schulter, er versuchte mich mitzunehmen auf seinem Weg in die Ohnmacht, und wusste doch, dass ich zurückbleiben und so die völlige Kontrolle über ihn und seinen Körper bekommen würde. Das Letzte, was ein Opfer in einer solchen Situation tut, ist, einen Blick aufzusetzen, der es dem Täter unmöglich machen soll, ihn anschließend zu töten.
Als Sebastian weggetreten war, zog ich ihm Schuhe und Socken aus, was eine irritierende Erfahrung war.
First Post, second Post
Sebastian Molitor:
Stoppt die Umbauarbeiten!
Ihr seid keine Baustellen, ihr seid Deppen.
Statt euch zu wehren gegen draußen, wehrt ihr euch gegen euch selbst, und das ist sagenhaft falsch und dumm. Statt euch gegen die Anforderungen, die aus euch kleine Duracell-Hasen machen wollen, zu wehren, sie zurückzuweisen, macht ihr aus euch kleine Duracell-Hasen. Ihr bekämpft euren Körper im Fitnessstudio und ersetzt euren eignen Blick durch einen antrainierten Blick.
Ich habe 147 Facebook-Freunde, ich werde mir jeden einzelnen von euch vornehmen, und ich werde anfangen mit Mila.
Hallo Mila. Nimm das (zur Kenntnis):
Die Scheiße, wie du dich hochkonzentriert lässig an irgendwelche Unimauern lehnst. Man sieht nicht dich, sondern das Bild, das du von dir im Kopf hast und ausperformen willst. Die urbane junge Frau, selbstbewusst, unbequem, dauerspontan, ein gewinnendes, lautes Lachen. Du kannst aber auch nachdenklich sein und weißt genau, wie du dabei schauen musst (aber nicht, was du dabei denken musst). Die Wahrheit ist, dass du gar keine urbaneske Urbanfrau mit verwirrend/faszinierend vielen FACETTEN bist, sondern eine echte Witzfigur reinsten Wassers.
Und ich verrate euch Facebook-Heinis noch ein Geheimnis: Mila ist in Robert verliebt, den die meisten von euch kennen, wie die meisten Mila kennen. Sie versucht ihn zu kriegen, indem sie ihn neckt und reizt. Ein erbärmliches Spiel wie aus einer Soap, sie streiten sich, lassen sich von ihren besten Freundinnen und Freunden vor dem jeweils anderen warnen, und fallen sich am Ende um den Hals. In der Soap. In echt nicht.
Peter Rost:
Hallo, Sebas? Habe versucht dich anzurufen, dich aber leider nicht erreicht. An alle, die deinen Post gelesen haben: Das ist garantiert NICHT Sebas! Vergesst den Post! Was ist da los?
Harald Brauck:
Oder er ist es doch. Das Mila-Bashing ist unterste Schublade, wird ihr aber null schaden. Sebas = Witzfigur. Was gut sein kann: Wenn ich dich die Tage sehe, haue ich dir eine aufs Maul.
Sebastian Molitor:
Was gut sein kann: Dass du der nächste auf meiner Liste hier bist, Kleinharald. Und zu Peter, wichtig!!!!!!: Stimmt, ich bin es nicht! Oder nicht allein. Die WAHRE Geschichte ist: Ich bin entführt worden. Hoffe, heute noch eine Nachricht dazu posten zu können.
Kemal Rock:
Du studierst Jura, richtig? Oder war es BWL? Jedenfalls keine gute Idee, wenn du dich an Themen versuchst, von denen du keine Ahnung hast. Dieses Zeug „dein wahres Gesicht“, lasst euch nicht manipulieren, wehrt euch etc., ist Kompletthumbug. There ain’t no such thing like a true you. Es gibt keinen Weg zu deinem „wahren Ich“ irgendwo in deinem verfickten Inneren. Was du schreibst ist langweilige Scheiße. Um es höflich zu formulieren. Was hältst du von meinem Vorschlag, einfach die Klappe zu halten?
Sebastian Molitor:
Ich brauche Eure Hilfe, KEIN FAKE! Keine Ahnung, was hier wirklich läuft. FAKT ist: Ich bin entführt worden und sitze in einem beschissenen Keller. Mein Entführer (krass: MEIN ENTFÜHRER) lässt mich unter seiner Aufsicht hier posten. Das macht für mich nur Sinn, wenn klar ist, dass euch klar ist, was Sache ist. Ich nehme an, mein Entführer hat zu meinem Vater gesagt: Keine Polizei! Aber er sagt nicht: keine Öffentlichkeit!
Was vor den Posts geschah (Das erste Gespräch nach der Entführung)
„Du solltest wissen, wie dein Gesicht aussieht, wenn es scheiße aussieht. Blutverschmiert.“
Krummnasig.
Eine Viertelstunde nach dem Wiedererwachen, dem Auftauchen aus einem ohnmächtigen Schlaf, der härter, tiefer, dunkler und zerrender gewesen war als jeder Schlaf davor in seinem Leben, die ihm jetzt alle vorkommen wie eine harmlose Babyvariante von Schlaf (oder war es im Gegenteil so, dass er zum ersten Mal wieder so geschlafen hat wie ein Baby? Ist es nicht so, dass wir in den ersten Monaten unserer Offline-Existenz die Träume von Verzweifelten träumen, die nichts verstehen und sich sehnen nach dem Weg zurück?), hört er Schritte. Sein Herz schlägt schneller als deins. Er fühlt sich wie auf Drogen, ein bisher nicht probierter Stoff, die Kehle ist rau, die Muskeln haben eine andere Textur als davor, sie sind verwandelt. Wie bei allen oder fast allen Männern seiner Generation spielen die Muskeln eine große Rolle in Sebastians Leben, die wichtigsten von ihnen bekommen eine Einzelbehandlung, Sebastian benutzt Geräte für den Rücken, den Bauch, den Bizeps, den Trizeps, wir schenken diesen Partien eine Aufmerksamkeit, die sie nicht verdienen. Wie würde sein Körper sich jetzt anfühlen ohne die Stunden im Gym? Wir bringen unsere Körper in Form, wozu?
Link nimmt sich einen Stuhl und positioniert sich so, dass Sebastian ihn genau gerade nicht erreicht, wenn er sich so weit nach vorne bewegt, wie die Kette es zulässt. Link trägt einen Jogginganzug, was bedeutet, er ist verkleidet. Ein Anzugmann in Casual Wear.
„Okay, Sebastian, hör mir zu. Die beiden wichtigsten Punkte sind, erstens: Das hier ist eine richtige Entführung. Das kommt uns beiden grotesk vor, aber das ist exakt die Lage, in der du dich befindest. Zweitens: Ich weiß nicht, was ich eigentlich vorhabe. Du bist eine Laborratte, auf die irgendwelche Experimente warten. Ich halte das für eine sehr gute Ausgangsposition, und der Punkt ist jetzt, ob uns beiden das Richtige dazu einfällt. Hörst du, wie ich die Luft durch die Nase ziehe? Es fühlt sich so echt an, das ist fantastisch, es ist so real, mit dir hier in diesem Keller zu sitzen. Ich glaube, das ist eine richtig große Sache, die wir hier vorhaben.“
Ich dachte immer, ich bin ein Feigling, denkt Sebastian, und wahrscheinlich bin ich das auch. Aber sein Instinkt sagt ihm, dass Link nicht gefährlich ist. Er denkt aber auch, dass man das ja nicht wissen kann. Die Menschen haben Abgründe, sagt man und liest man, sie sind unberechenbar, und auch wenn Sebastian bisher nicht die geringste Erfahrung in dieser Richtung vorzuweisen hat (im Gegenteil, nach seiner Erfahrung sind die Menschen nachhaltig harmlos, ganz eindeutig), bedeutet das ja nicht, dass in Link nicht doch etwas absolut Krankes wuchert, das jederzeit zum Ausbruch kommen kann.
Sebastian drängt sich gegen die Wand, als könnte die Schutz bieten, er duckt sich und krümmt sich und kann doch nicht verhindern, dass ihn vier Schläge voll ins Gesicht treffen.