Der junge Reformator Luther - Teil 2 – ab 1518. Heinrich BoehmerЧитать онлайн книгу.
Wittenberg.
Luther beschloss sofort auf Rat seiner prozesskundigen juristischen Freunde, durch einen eigenen Boten den Kurfürsten, der zur Zeit auf dem Augsburger Reichstage weilte, zu ersuchen, durch Vermittlung des Kaisers bei dem Papst die „Remissio seu commissio seiner Angelegenheit ad partes Alemanniae“ zu erwirken, d. h. zu beantragen, dass er sich, wie einst Johann Reuchlin (Reuchlin war ein deutscher Philosoph, Humanist, Jurist und Diplomat. Er gilt als der erste bedeutendere deutsche Hebraist christlichen Bekenntnisses.), in Deutschland an einem unverdächtigen Orte vor unverdächtigen Richtern verantworten dürfe. Dann machte er sich an die Widerlegung des der Zitation beigelegten Dialogus des Prierias (Mazzolini – genannt Prierias – wuchs im Piemont auf und absolvierte dort auch seine Studien. Nach erfolgreichem Abschluss bekam er einen Lehrauftrag an der Universität Bologna. Papst Leo X. berief ihn 1514 auf einen Lehrstuhl für Theologie an die römische Universität La Sapienza. – Mazzolini veröffentlichte 1515 ein Werk über Kirchendoktrinen und Ethik, das sehr beliebt war. 1518 war er mit seinem „Dialogus de potestate papae“ einer der ersten, die Martin Luther angriffen. Die Schrift interpretiert die Ansichten der römisch-katholischen Kirche über den Ablass. Die Antwort Luthers war sarkastisch.). In zwei Tagen war er damit schon fertig. Da Grünenberg schon alle Hände voll für ihn zu tun hatte, schickte er das etwa 80 Druckseiten umfassende Manuskript samt dem Dialogus nach Leipzig und ließ beide Schriftstücke dort in der Offizin des Melchior Lotter in der Hainstraße drucken. Die Schnelligkeit, mit der er arbeitete, bleibt erstaunlich, auch wenn man in Rechnung zieht, dass er die Materie, um die es sich handelte, jetzt nachgerade völlig beherrschte. Die Setzer konnten schon jetzt nicht mehr mit ihm Schritt halten und waren ihm daher von nun an ständig ein Stein des Anstoßes. Was hält er Prierias entgegen? „Die Kirche ist virtuell nur in Christus vorhanden, repräsentativ im allgemeinen Konzil.“ „Sowohl der Papst wie das allgemeine Konzil kann, wie bereits Nikolaus de Tudescho, Erzbischof von Palermo († 1445), festgestellt hat, irren. lrrtumlos ist allein, wie schon der heilige Augustin sagt, die Heilige Schrift.“ Aber damit soll nicht behauptet werden, dass Papst und Konzil schon tatsächlich einmal geirrt haben. „Die römische Kirche hat bisher den wahren Glauben noch nie durch einen förmlichen Beschluss verleugnet und immer an der Autorität der Bibel und der alten Kirchenväter festgehalten, obgleich recht viele Leute in Rom an die Bibel nicht glauben, noch auch sich um sie kümmern.“ „Wenn ich, nachdem sie über die Ablassfrage entschieden haben sollte“ – das war in aller Form bisher noch nicht geschehen –, „ihre Entscheidung nicht respektieren würde, dann würde ich ein Ketzer sein.“ „Auch jetzt noch disputíere ich aber nur und warte auf den verdammenden Spruch eines Konzils.“ Er geht also auch jetzt nicht über das hinaus, was schon Ockham, Ailli, Tudescho behauptet hatten. Der Satz: „Papst und Konzilien können irren“, hat für ihn immer noch lediglich die Bedeutung einer dogmatischen Theorie, die für den Theologen, der nach den Quellen des Glaubens fragt, allerdings sehr wichtig ist, aber dem Laien ziemlich gleichgültig sein kann. Denn faktisch ist das katholische Dogma, soweit es wirklich Dogma, d. h. durch förmliches Urteil von Papst und Konzilien öffentlich definiert ist, ihm noch identisch mit der Lehre Christi. Jedoch nur, soweit es in solcher Weise definiert ist. Über die Lehren, die noch nicht definiert sind, darf man, meint er, noch frei disputieren. Dazu gehörten aber alle die Lehren, die er bekämpfte. Er hatte also seiner Überzeugung nach noch keinen Anlass, sich für einen Ketzer zu halten, und ein Recht, diese Bezeichnung energisch zurückzuweisen, selbst wenn sie von dem amtlichen Sachverständigen der Kurie in Glaubenssachen gegen ihn gebraucht wurde.
Allein in Rom war man gerade in den Tagen, wo er diese Sätze schrieb, zu der Überzeugung gekommen, dass er nicht bloß der Ketzerei verdächtig sei, sondern bereits öffentlich in gravierendster Weise als Ketzer sich betätigt habe und daher so schnell als möglich auf dem üblichen Wege vom Leben zum Tode befördert werden müsse. Was war inzwischen geschehen?
Das summarische Verfahren wegen notorischer Ketzerei
Wie der Ablass, so war in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters auch der Bann in der Praxis der kirchlichen Behörden aus einem reinen Straf- und Disziplinarmittel zu einem Mittel der kirchlichen Finanz- und Erwerbspolitik geworden. Wer den Zehnten oder irgendeine der sehr vielen anderen kirchlichen Abgaben nicht pünktlich entrichte, der wurde, auch wenn er seine Zahlungsunfähigkeit nachweisen konnte, ohne Gnade gebannt. Ließ er auch den zweiten Zahlungstermin verstreichen, ohne sich zu rühren, dann wurde der Bann auch auf seine Familie ausgedehnt, d. h. auch sein Weib und seine Kinder von den Sakramenten, er selber aber auch von allen „ehrlichen Gesellschaften“, als Hochzeiten, Kindtaufen, Leichenschmäusen, von Kauf, Verkauf und allem sonstigen geschäftlichen Verkehr ausgeschlossen und, wenn er starb, ohne Glockengeläut und Segen wie ein Tier in ungeweihter Erde eingescharrt. Führte auch diese sogenannte Aggravation oder Verschärfung des Bannes nicht zum Ziel, dann wurden beim nächsten Zahlungstermin alle Orte, die der „Bänniger“ betrat, mit dem lnterikt belegt, d. h. der Bann auch auf alle seine Nachbarn und Mitbürger ausgedehnt. So wurden die armen „Leute“ schließlich meist doch gezwungen, „sich über Vermögen mit den Offizialen zu vertragen oder mit ihren Kindern davonzugehen und landläufig zu werden“. Die Zahl dieser um Schuld und Geld gebannten Personen war überall sehr groß. Ihren Höhepunkt erreichte sie immer in den beiden Erntemonaten August und September, in denen der große Zehnte fällig war. Da flogen, um mit Luther zu reden, die Bannbriefe wie die Fledermäuse gleich zu Hunderten umher. Eine ebenso große Rolle spielten Bann und lnterdikt jetzt in den unaufhörlichen Kämpfen der geistlichen Korporationen um ihre zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Vorrechte. Wollte der Rat einer Stadt z. B. einem solchen Institut, also etwa einem Dom- oder Stiftskapitel oder einem Kloster nicht zollfreie Einfuhr von Bier und Wein und freien Ausschank dieser Alkoholika in den geistlichen Gebäuden gestatten, oder wagte ein Fürst oder Stadtrat einen auf handhafter Tat betroffenen Missetäter geistlichen Standes zu verhaften und abzustrafen, dann griff die Kirche sofort zu Bann und Interdikt (Ausschluss aus der Gemeinschaft), auch wenn der Malefikant (Übeltäter, Deliquent) bloß die sogenannte erste Tonsur, also noch keine geistlichen Weihen besaß und das Recht jener geistlichen Korporationen, Bier zu brauen und Schenken zu halten, erst gerichtlich festgestellt werden musste. Die Klagen über diese Missbräuche bildeten überall den hauptsächlichsten Gegenstand des geschäftlichen Verkehrs zwischen weltlichen und geistlichen Obrigkeiten. Aber der Versuch, sie zu beseitigen, hatte noch nirgends zu einem durchgreifenden Erfolg geführt, weil die Kirche nicht gewillt war, auf dies ungemein wirksame und für sie höchst bequeme Zwangsmittel zu verzichten.
Danach begreift man, wie die Wittenberger aufhorchten, als Luther zum ersten Mal in einer Predigt am 14. März 1518 es wagte, auch „dieser Katze die Schelle anzubinden“ und sich zürnend gegen das „Spiel“ wandte, „das man jetzt um geringer Sachen willen mit dem Bann anrichte“. Aber was den anderen Leuten der größte Anstoß war, die Verwendung des Bannes zu finanziellen Zwecken, das interessierte ihn, genau wie bei dem Ablass, erst in zweiter Linie. Als größter Schade erschienen ihm auch bei diesem Missbrauch die verheerenden Folgen, die er für das sittliche und religiöse Leben hatte: die Verwirrung der Gewissen durch die überstrenge Ahndung kleiner äußerer Übertretungen und die laxe Behandlung der schwersten sittlichen Verfehlungen, insbesondere wenn der Angeklagte ein Geistlicher oder ein wohlhabender Mann war, vor allem aber die schweren Skrupel und Ängste, in die gerade die ernster gesinnten Frommen gerieten, wenn sie selbst oder einer ihrer Angehörigen ungerechterweise in den Bann getan wurden. Denn der Glaube, dass der„Bänniger“, wenn er im Bann sterbe, der Seligkeit verlustig gehe, war noch nicht erschüttert und wurde durch die feierlichen Riten bei der Verkündigung des Bannes, Auslöschen der Lichter, Glockengeläut usw., von der Kirche absichtlich genährt und wach erhalten.
Einen schicklichen Anlass, die Skrupel und Ängste wegen solcher ungerechter Bannsprüche einmal gründlich zu behandeln, gab dem Reformator der vorgeschriebene Text des Sonntags Exaudi, Joh. 15, 26 ff.: „Sie werden euch ungerechterweise in den Bann tun.“ lm Anschluss an diesen Text führte er am 16. Mai auf der Kanzel der Wittenberger Stadtkirche aus: Der Bann bedeute immer nur Ausschluss aus der äußeren Kirchengemeinschaft, nicht Ausschluss aus der inneren Gemeinschaft