Die Bande des Schreckens. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
»Wie alt sind Sie?« fragte er plötzlich, während er auf den Strom hinausruderte.
»Beinahe dreiundzwanzig – schon sehr alt.«
»Sie sehen aber durchaus nicht alt aus. Ich hielt Sie für höchstens zwanzig. Sind Sie böse, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sehr schön sind?«
Sie lachte.
»Nein, darüber freue ich mich nur«, gestand sie offen.
Das Boot glitt leicht den Strom hinunter.
»Sie haben die schönsten Augen, die ich jemals an einer Frau gesehen habe«, sagte er nach einer Weile.
Sie erhob warnend den Finger.
»Mr. Long, ich glaube, Sie wollen mit mir flirten!«
»Nein, ich konstatiere nur Tatsachen. Sind Sie eigentlich verlobt?«
»Nein.«
Er holte tief Atem.
»Sonderbar.«
Plötzlich zog er die Ruder ein und hielt sich an einem Zweig am Ufer fest. Als sie aufschaute, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß sie sich dicht neben Sheltons Motorboot befanden.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er und sprang an Bord. Dann beugte er sich nieder, reichte ihr die Hand und half ihr, hinaufzusteigen.
Als sie das Boot jetzt nahe vor sich sah, bemerkte sie den Verfall deutlicher.
Der Wetter öffnete die Tür zu der kleinen Kabine.
»Kommen Sie einmal hierher.«
Sie folgte ihm. Es herrschte vollkommene Dunkelheit in dem Raum, da alle Läden geschlossen waren, und er steckte ein Streichholz an.
»Sehen Sie, das klingt fast wie eine Prophezeiung.«
In eine Täfelung war eine Anzahl von Daten eingeschnitten.
1. Juni 1854 J. X. T. L.
6. September 1862.
9. Februar 1886.
11. März 1892.
4. September 1896.
12. September 1898.
30. August 1901.
14. Juni 1923.
1. August 1924.
In der vorletzten Zeile war hinter dem Datum ein kleines Kreuz eingeritzt.
Nora betrachtete die Zahlen erstaunt.
»Hat Mr. Shelton die Daten eingeschnitten? Was bedeuten sie denn?«
»Sie verraten allerhand«, erwiderte er vorsichtig. »14. Juni 1923 – das ist leicht erklärt. An diesem Tage wurde er gehängt!«
Sie schrak zurück. Das lange Wachsstreichholz ging aus, und einen Augenblick standen beide im Dunkeln. Plötzlich überkam Nora eine ungewöhnliche Furcht, und sie eilte an ihm vorbei ans offene Deck, in das Sonnenlicht. Er folgte ihr sofort und schloß die Tür der Kabine. Aus seinem Benehmen folgerte sie, daß er der augenblickliche Besitzer des Bootes war.
»Diese eingeschnittenen Daten habe ich im vorigen Jahr entdeckt, als ich das Boot kaufte und es näher untersuchte. Es war zuerst ein anderes Brett darüber geschraubt.«
»Aber er konnte doch nicht den Tag seines Todes vorauswissen?«
»Nein. Dieses Datum ist von der Bande des Schreckens eingeritzt worden.«
Nora sah ihn groß an. Scherzte er?
»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte sie schließlich.
»Wir wollen wieder in unser Boot steigen«, erwiderte er nur.
9
Mit großen, kräftigen Ruderschlägen trieb er das Fahrzeug stromaufwärts, und das Ufer mit seinen Wiesen und malerischen Baumgruppen glitt an ihnen vorüber. »Es gehört schon sehr viel Umsicht und Energie dazu, ein Doppelleben zu führen«, meinte er nachdenklich. »Aber Shelton ist in mindestens sechs verschiedenen Masken aufgetaucht.«
»War er eigentlich verheiratet?« fragte sie interessiert.
»Das haben wir nie genau feststellen können, aber wahrscheinlich hatte er keine Familie.«
Plötzlich fiel ihr ein, daß unter Sheltons Todestag noch ein weiteres Datum eingeschnitten war, und zwar der 1. August 1924. Und heute hatten sie erst den 23. Juli!
»Was soll denn am 1. August geschehen?«
»Darum handelt es sich ja gerade«, entgegnete er bedrückt. »Außer mir weiß niemand etwas Genaues über die Bande des Schreckens, und ich weiß auch nur sehr wenig. Ab und zu ahnt man ihre Tätigkeit, sieht ihre Verbrechen. Der alte Shelton hat die Banken um eine Million Pfund betrogen, aber seine verschiedenen Existenzen haben viel Geld gekostet und schließlich wieder alles verschlungen. Auch möglich, daß er Geld bei den Rennen verloren hat. Die meisten Verbrecher haben ja irgendeine kostspielige Passion. Die Leute, die er zur Ausführung seiner Pläne brauchte, haben auch viel gekostet. Aber immerhin, eine Million Pfund ist eine große Summe. Die Bande des Schreckens stand immer hinter ihm. Mr. Monkford hatte einen Bruder, der seine Ferien an der Adria verbrachte. Eine Woche nach Sheltons Tod ertrank dieser Mann. Man fand ihn eines Morgens tot in seinem Badeanzug am Ufer auf. Mr. Monkford glaubte an einen Unglücksfall, und in gewisser Weise war es das auch, denn sie hatten den falschen Monkford gefaßt.«
»War es denn wirklich ein Mord?« fragte sie mit stockender Stimme.
Der Wetter nickte.
»Sie fahren wohl mit dem Sechsuhrfünfzigzug nach London zurück?« sagte er dann plötzlich. »Den benütze ich auch. Aber ich muß Ihnen von vornherein sagen, daß ich dritter Klasse fahre. Ich bin Demokrat.«
Er ruderte eine Weile schweigend weiter.
»Die Bande des Schreckens«, sagte er nach einiger Zeit halb zu sich selbst. »Irgend etwas ist im Gange, aber ich weiß nicht, was es ist. Haben Sie eigentlich unseren Nachbar schon gesehen? Nein? Den müssen Sie kennenlernen, er gehört zu den Sehenswürdigkeiten von Marlow. Übrigens war er auch in der Bank, als ich Shelton verhaftete.«
Kurz darauf wichen die Sträucher und Baumgruppen vom Ufer zurück, und Nora sah erstaunt auf einen wunderbar gepflegten Garten. Im Hintergrund erhob sich das Wohnhaus. Es war der schönste Park, den sie jemals gesehen hatte. Der Rasen schimmerte smaragdgrün, und überall standen Bouquets von farbenprächtigen Blumen.
In einer offenen Laube saß ein Herr in einem Deckstuhl. Als das kleine Boot am Steg anlegte, erhob er sich langsam. Er war lang und hager, hatte ein ovales, etwas ausdrucksloses Gesicht und trug ein Monokel. Mit müdem Blick beobachtete er die beiden Ankömmlinge.
»Hallo, Long«, sagte er gedehnt, als sie näher kamen, und reichte dem Detektiv die Hand.
»Darf ich Sie vorstellen? Mr. Crayley – Miß Sanders.«
»Wie geht es Ihnen? Nehmen Sie doch Platz.« Die Hand, die er Nora gab, war so weich und schlaff, daß sie kaum einem lebenden Menschen zu gehören schien.
»Miß Sanders interessiert sich für Ihren herrlichen Garten und hätte ihn gern einmal näher betrachtet.«
»Die Blütenpracht ist wirklich wundervoll«, sagte sie begeistert.
»Ja«, entgegnete er gleichgültig. »Gar nicht übel. Ich habe eben einen guten Obergärtner, das ist alles. Zeigen Sie doch bitte der Dame, was es hier zu sehen gibt ... und pflücken Sie sich ruhig soviel Blumen, wie Sie wollen.«
Schon bevor sie fortgingen, sank er wieder in seinen Sessel und nahm die Zeitung auf.
»Was halten Sie von ihm?« fragte Long, als sie außer Hörweite waren.
»Er scheint sehr müde zu sein«, erwiderte sie zögernd.
Er