Adieu. Otto W. BringerЧитать онлайн книгу.
Gesicht. Das nasse Haar an Kopf und Nacken glatt anliegend. Schön wie eine Skulptur von Brâncusi. Sah, wie sich aus dem Oval eine kleine gebogene Nase abhob. Und weiter oben über dunklen Augen zwei kräftige Augenbrauen den Anfang einer hübschen Stirn definierten. „Hahallooo, aufgepasst!“ rief sie und lachte, als meinte sie es nicht ernst. Drehte sich zur Treppe. Wieder um und lachte. Sah gleichmäßige Zähne zwischen roten Lippen. Möchte sie küssen. Langsam mit den wilden Pferden, mahnte meine Oma, wenn ich etwas sofort haben wollte. Aber ich wollte. Stieg die Leiter hoch, suchte nach einem Wort. Rasch, bevor sie wieder verschwand.
Sie war stehen geblieben. Als wartete sie auf jemanden. Mich? Schüttelte ihr langes Haar, dass es flog rechts, links und wieder herunter. Jetzt sah ich, es war wirklich lang. Lang bis dahin, wo die Wirbelsäule endet. Busen, Taille und Po unter dem eng anliegenden, tropfnassen Tuch ihres schwarzen Badeanzuges zeigten Formen, dass mir fast schwindelig wurde. Was für ein Weib. So jung und schon so schön. Besser nicht dran denken, dachte ich. Und dachte es doch.
Eine samtene Stimme, wie ein Cello: „Gehen Sie jeden Samstag schwimmen?“ War sie mir doch zuvorgekommen. „Ja, es ist schön hier und mit drei Becken groß genug für Wasserratten, die nicht arbeiten müssen. Haben Sie auch Samstagnachmittag frei?“ „Ich gehe noch zur Schule, Untersekunda. Und Sie, was machen Sie?“ „Bereite mein Studium vor, will Architekt werden.“ „Schöner Beruf, möchte ich auch, wenn ich ein Mann wäre.“ „Da bin ich anderer Meinung. Darüber sollten wir ausführlich sprechen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer halben Stunde im „Café Bittner.“ Einverstanden?“ „Einverstanden.“ So, das hatte geklappt.
War gespannt, ob sie kommt. Rannte zum „Café Bittner“, wollte sie unter keinen Umständen verpassen, die Hundertmeterläuferin. Sportlich wie sie aussieht. Ich wartete vor der Tür. Wartete. Eine Viertelstunde verging. Wird wohl nichts, dachte ich enttäuscht. Da lief sie auf mich zu: „Entschuldigen Sie, ich musste meiner Mutter noch den Wäschekorb in die vierte Etage tragen.“
Donnerwetter, dachte ich, sagte laut: „Lieb von Ihnen. Wir haben´s leichter, nur acht Stufen bis in unsere Wohnung. Gehen wir?“ Wir gingen, vorbei an Theken, vor denen Frauen sich zu Massen stauten. Gestikulierten, schwadronierten, was möchtest Du? Mit Sahne oder lieber nicht? Kaffee oder Tee? Der Eiskaffee hier schmeckt köstlich. Der beste der Stadt.
Wir finden einen Fensterplatz. Einigten uns auf Fruchtbecher mit Sahne. Blicken hinaus auf die Kö. Den Autoverkehr. Sah einen Mercedes mit geöffnetem Verdeck. Meist aber buckelige Fords, Käfer mit geteiltem Rückfenster. Verbeulte DKWs. Opel. Einen Chevrolet, wahrscheinlich ein Besatzungsoffizier. Den Magirusbus, Kriegsveteran von Herfurtner, bei dem ich schaffnern will in den Semesterferien. Erinnerte eine Probefahrt mit der Kiste. Sie ratterte, brummte, knallte und puffte. Schrillte die Hupe, wenn sie andere überholte. In den rosaweichen Plüschwolken der ersten Etage des Cafés hörte man nichts. Die Welt draußen wie ausgeschaltet.
Nur das Gemurmel der Gäste wie ein Vorhang, hinter dem ich jetzt mein Solo vorbereitete. „Wie schmeckt Ihnen das Eis?“ „Gut.“ Sie sah mich an, als wollte sie herausfinden, was ich wirklich fragen wollte. Kam ihr zuvor: „Bevor wir über den Beruf des Architekten reden, sagen Sie mir bitte wie Sie heißen?“ „Ruth“ die kurze Antwort. „Ich bin der Otto, Otto Bringer.“ „Ruth André. Mein Onkel ist auch Architekt in Münster. Alle sagen, es ist nur ein Beruf für Männer. Frauen hätten keine Chancen, weil das Praktikum mit den rauen Kerlen am Bau zu gefährlich wäre für sie.“
„Das stimmt mit den Kerlen. Aber es gibt auch anständige unter ihnen. Über Frauen reden alle. Nicht immer respektvoll. Wette aber, ist eine Frau ihre Kollegin, nehmen sie ihr die schwerste Arbeit ab. Verwöhnen sie sie wie eine Geliebte.“ „Oh, das klingt schon besser. Aber mich hat das Theater gefesselt. Möchte Schauspielerin werden. Im Schultheater spielte ich zuletzt die Julia aus Shakespeares „Romeo und Julia“.“
Stellte mir Ruth auf dem Balkon vor. Unten ich, der Romeo. Zwei O schon im Namen. Hatte nur den Text nicht im Kopf. Schon zitierte sie: „ Willst du schon gehen, der Tag ist ja noch fern.“ Da erinnerte ich mich, wie es weiter ging: „Die Lerche war´s, die Tagverkünderin.“ Ruth lachte, so laut, dass sich alle Hälse bogen, zu sehen, wer so unverschämt ist, ihre Ruhe zu stören.
Ich ergriff ihre linke Hand, die rechte war noch mit Löffeln beschäftigt. Lachte mit ihr, schon leiser, mit Rücksicht auf die Leute. Bewunderte ihre dunklen Augen. „Ist das nicht toll, gleich beim ersten Treffen entdecken wir Gemeinsames. Auch wenn es nur ein Bühnentext war. Zum Glück hatte August Wilhelm Schlegel Shakespeares Original ins Deutsche übersetzt.“
„Oh, Sie wissen aber viel. Wenn ich mich richtig erinnere, steht es auch im Textbuch. Aber so klein Gedrucktes gehört nicht zur Rolle.“ Wir blieben beim Thema Theater. Es ergab sich, dass in Düsseldorf Gustav Gründgens Intendant wurde. Faust auf dem Spielplan. „Das sollten wir sehen, ich lade Sie ein.“ Will Quadflieg suchender Faust, Gründgens der große Verführer Mephisto, ein spannendes Duo.“ „Gerne Herr Otto, muss nur meinen Vater überzeugen, dass der Besuch Teil unseres Deutschunterrichts ist. Sicher kein Problem“ Ich glücklich, eine Gelegenheit gefunden zu haben, drei Stunden im Dunkeln neben ihr zu sitzen.
Zwei Wochen später im Schauspielhaus. Dritter Rang. Mein kleines Gehalt reichte nicht für´s Parkett. Bühnenloge schon gar nicht. Erinnerte mich an die Schulzeit. Als Mitwirkende in Bizets Oper „Carmen“ durften wir die letzten drei Akte von dort aus miterleben, wenn Sitze frei waren. Im ersten sangen wir die Gassenjungen: „Schnell herbei gestürmt wie´s Wetter, es kommen die Soldaten ja…hört der Trompeten Geschmetter tateratata.“ Es war eine aufregende Zeit. Zum ersten Mal Theaterluft geschnuppert. Und nie mehr vergessen.
Hier wieder. Faust, Goethes wortmächtige Dichtung. Bin irritiert: zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust. Gretchen im Gefängnis: Heinrich mir graut´s vor dir.“ Und stirbt. Schrecklich.
Was sollte ich sagen? Blieb mir nur eines: „Da steh ich nun ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor. Nahm Ruth beim Arm: „Wie wär´s meine Liebe?“ Riskierte ein indirektes Du. Sie reagierte sofort: „Was wäre? Wollen Sie mich nachhause begleiten? Es ist gleich Elf. Mein Papa steht bestimmt schon in der Tür. Den ganzen Abend hatte ich vergessen, dass Ruth gerade sechzehn war. Nach zehn Uhr werden Väter ungemütlich. „Vielleicht sollte ich Ihre Eltern einmal kennenlernen.“ „Zuerst müssen wir richtige Freunde werden.“ Das kluge Kind hat gesagt, was ein Erwachsener hätte sagen können. Der Herr Papa muss großen Einfluss auf sie haben und ihren kleineren Bruder.
Am folgenden Samstag erfuhr ich von ihr, er ist Jugendrichter. Aha, wunderte mich jetzt nicht mehr, dass er sein Töchterchen bewacht wie ein Polizeihund. Was also tun? Ihr schmeckte der Früchtebecher letzthin sehr gut. Also auf ins Café Bittner. Es war noch früher Nachmittag. Wir hatten zwei Stunden Zeit. Zeit, von uns zu erzählen. Könnte ganz langsam und peu à peu das Du einfließen lassen. So, als hätte ich mich versprochen. Jedenfalls war das meine Absicht. Da kam sie mir zuvor: „Wir kennen uns jetzt schon drei Wochen. Eigentlich könnten wir Du zueinander sagen.“ Oh, wie vornehm ausgedrückt. Ich hätte gesagt: duzen wir uns doch.
„Ich bin Otto“, hob meinen Becher in die Höhe, hole eine Erdbeere auf den Löffel und schob sie in Ruths schon geöffneten Mund. „Prost Ruth.“ „Prost Otto“. Kaum ausgesprochen spürte ich eine Kirsche zwischen meinen Lippen. Nun müssten wir uns küssen. Die Löffel noch in den Händen berührten sich unsere Lippen flüchtig. Schmeckte Erdbeere, nichts anderes. Irgendwann wird es anders schmecken. Wie wohl?
Drei Wochen gingen ins Land. Wir hatten uns so viel zu erzählen. Von unseren Plänen. Die Zukunft scheint rosenrot. Jetzt umarmten wir uns schon, wenn wir uns trafen. Küssten die Wangen. Einmal rutschten meine Lippen nach vorne, blieben dort kleben. Der Mundkuss schmeckte wunderbar. Und dauerte lange. Viermal länger als beim ersten Mal im Café Bittner. Wenn ich mich nicht verzähle.
Das Café besuchten wir nicht mehr. Fuhren mit der Straßenbahn nach Kaiserswerth am Rhein. Die „Fähre“ an seinem Ufer. Füße plantschen im Wasser, Eishörnchen in der einen, streicheln mit der anderen Hand. Sie ließ es geschehen. Schaute glücklich aus. Ihre dunklen Augen glänzten. In ihrer Stimme zitterte schon Lust. Dachte ich für mich und plante einen Überfall.