Ströme meines Ozeans. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
aus dem Figaro. Das allererste Zitat, das sich Victor jemals notiert hat, lautet: »Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf eine lange Erfahrung gründet«. Es stammt von Cervantes und Victor hat den Spruch in einem Schulbuch gefunden und ihn am 9. Mai 1875 notiert. Ich finde es ist sehr passend für das erste Sprichwort, das man sich aufschreibt.
Paris, 22. August 1890
Eben gerade habe ich die letzten Zeilen in Mrs. Blys Reisebericht gelesen. Ich habe den Atlas genommen und habe ihre Reiseroute noch einmal verfolgt. Von New York über den Atlantik hierher zu uns nach Europa, nach Frankreich. Dann in Italien von Brindisi aus auf dem Dampfer durch das Mittelmeer nach Ägypten, nach Port Said. Weiter durch den Suezkanal, durchs Rote Meer bis nach Aden. Von dort über den Ozean nach Colombo. Weiter nach Penang und Singapur bis nach Hongkong. Das waren schon zwölftausend Meilen, eine gewaltige Strecke, aber es ging ja noch weiter. Über Yokohama und zurück auf den amerikanischen Kontinent, nach San Francisco. Hier ist Mrs. Bly vom Dampfschiff auf die Eisenbahn umgestiegen, bis nach Chicago und schließlich zu ihrem Ziel nach Jersey City gefahren. Es waren genau einundzwanzigtausendsiebenhundertvierzig Meilen, einmal rund um die Welt in tausendsiebenhundertdreißig Stunden und davon hat sie auch noch fast sechzehn Tage durch unvorhersehbare und unvermeidliche Aufenthalte verloren. Wenn jedes Schiff, jede Zugverbindung ohne Verzögerung erreicht wird, wenn es nirgends auf dieser langen Reise eine Verzögerung gibt, dann hätte es Mrs. Bly in etwas mehr als sechsundfünfzig Tagen um die Erde geschafft. Vielleicht wird ein solches Rennen einmal arrangiert, vielleicht warten in jedem Hafen die Dampfschiffe, voll mit Kohle gebunkert, sodass der Weltreisende nur noch von einem Deck zum anderen springen muss und es geht weiter. Vielleicht wird für die Überlandfahrten eine Eisenbahn benutzt, die ohne Halt die Strecken überwindet. Wenn dies alles arrangiert ist, wenn die schnellsten Dampfschiffe und rasantesten Eisenbahnen zur Verfügung stehen, kann eine Reise um die Erde auch in fünfzig oder gar vierzig Tagen geschafft werden. Eines an Mrs. Blys Reise hat mich aber nicht minder verblüfft. Eine Weltreise zu unternehmen weckt in mir die Vorstellung, auch viel von der Welt zu sehen. Am Ende ihres Berichts zählt Mrs. Bly noch einmal auf, welche Länder sie schließlich besucht hat. Europa war mit England, Frankreich und Italien vertreten, sicherlich nicht sehr viele Länder. Außerhalb Europas war sie dann eigentlich nur noch in Ägypten, Japan und den Vereinigten Staaten und in einigen britischen Besitzungen an der arabischen, indischen und chinesischen Küste. Es ist nicht viel, und es fehlt doch der größte Teil der Welt. Wenn ich eine solche Reise unternehmen würde, so wollte ich doch auch Südamerika, Afrika und das nördliche Asien kennenlernen. Ich könnte mithilfe meines Atlas zahllose Städte und Orte aufzählen, doch sie zu bereisen dürfte Monate, nein bestimmt Jahre dauern. Eines hat Nellie Bly aber geschafft und das war ja auch das Ziel ihrer Reise, sie ist in eine Richtung gestartet, hat diese Richtung immer beibehalten und ist dann wieder dort angekommen, wo sie gestartet ist, eine Umrundung der Welt eben.
Paris, 30. August 1890
Mutter hat noch einmal geschrieben, obwohl wir Vater und sie doch in wenigen Tagen besuchen. Mutter hat mir ein paar Dinge aufgetragen, die ich ihr unbedingt mitbringen soll. Ich hoffe, die Sachen noch zu bekommen. Mutter ist auch etwas besorgt, wegen der streikenden Hafenarbeiter. Sie hat gehört, was vor einem Jahr in London auf den Docks passiert ist und fürchtet jetzt, dass Victor und ich in Liverpool nicht sicher sind. Vater wird uns bestimmt das Kontor im Hafen zeigen wollen und lässt sich davon auch nicht abbringen. Ihr wäre es am liebsten, wenn wir die ganze Zeit in Gayton blieben und nicht nach Liverpool hineinführen. Noch sind wir ja nicht in Liverpool und ich glaube, es wird schon nicht so schlimm sein. Ich werde größere Schwierigkeiten haben, Mutters Wunschliste zu erfüllen.
Paris, 9. September 1890
Morgen früh reisen wir. Erst nach Le Havre und dann weiter mit dem Schiff direkt nach Liverpool. Victor will mich mit irgendetwas überraschen und ich glaube auch zu wissen, was es ist. Ich werde hier nichts von meinen Vermutungen notieren, weil es Unglück bringt. Ich will jetzt auch nicht weiter darüber nachdenken. Ich freue mich erst einmal, die Eltern wiederzusehen und dann ist da ja auch noch Mutters Geburtstag.
Gayton, 13. September 1890
Victor hat selbst mich überrascht, obwohl ich es ehrlich gesagt schon geahnt habe. Victor hat mit Vater über die Hochzeit gesprochen und darum gebeten, dass wir noch dieses Jahr heiraten. Vater musste natürlich zustimmen, was sollen auch die Freunde und Bekannten in Paris sagen, wenn ich dort weiterhin ganz alleine lebe, ohne die Aufsicht meiner Eltern. Es ist einfach anständiger verheiratet zu sein und nicht nur verlobt. Ich habe ja ein wenig auf diesen Ausgang spekuliert, als ich mich geweigert habe, die Eltern nach Liverpool zu begleiten. Ich bin so glücklich, es ist so herrlich. Zu Weihnachten kommen Mutter und Vater nach Paris und wir heiraten am 24. Dezember, unserem Tag. Es gibt bis dahin noch so vieles vorzubereiten und so vieles zu besprechen.
Gayton, 14. September 1890
Auch am Tag danach hält das Glück an, ich kann kaum an etwas anderes denken. Wir sind auch noch gar nicht in der Stadt gewesen. Mutter hatte recht, es gibt dort Unruhen und es soll sogar ein Armeeregiment nach Liverpool beordert werden. Der Bürgermeister hat den Ausnahmezustand erklärt, und das alles nur, weil die Hafenarbeiter mehr Geld für ihre Arbeit fordern. Vaters Geschäfte sind auch betroffen, er hat niemanden mehr, der sein Holz verlädt. Er wollte schon einige Arbeiter aus Manchester kommen lassen, doch ihm wurde davon abgeraten. Wir wissen nicht, wie lange noch gestreikt wird und ob es in den nächsten Wochen eine Einigung gibt. Ich hoffe nur es kommt niemand zu Tode. Mutter und Vater haben jetzt auch ein Mädchen im Haus angestellt. Sie ist so alt wie ich, das gleiche Geburtsjahr. Miss Hutchinson scheint mir recht scheu zu sein, aber Mutter sagt, sie sei sehr zuverlässig.
Gayton, 18. September 1890
Heute reisen wir wieder ab. Es ist alles für Weihnachten geplant. Mutter und ich haben schon mit einer Liste begonnen. Es ist erstaunlich, woran wir alles denken müssen. Die schwerste Wahl wird für mich sein, eine Trauzeugin zu benennen. Victor musste nicht lange nachdenken, er hat einen Regimentskameraden, Alain Brunet, ein schüchterner, etwas steifer Lieutenant, dem ich erst einmal begegnet bin. Mir soll es Recht sein. In Liverpool hat sich die Lage auch entspannt. Die Arbeiter haben aufgegeben, so hat es zumindest Vater formuliert, denn sie haben wohl nichts erreicht. Der Streik ist jedenfalls beendet und Vater ist schon gestern wieder ins Kontor gefahren, zusammen mit Victor, der sich alles hat zeigen lassen.
Gayton, 20. September 1890
Wir sind doch noch zwei Tage länger geblieben. Seit gestern ist Onkel Gustave in Gayton, er löst uns ab. Onkel Gustave will sich vielleicht am Geschäft beteiligen, Vater hat so etwas angedeutet. Onkel Gustaves Geld wäre für Vater bestimmt sehr wertvoll, um in Liverpool erfolgreich zu sein. Nach England wird der Onkel allerdings nicht ziehen, niemals. Er klammert sich in Vannes zu sehr an sein Junggesellenleben. Er wollte ja damals nicht einmal mit nach Paris kommen, als es schon einmal so aussah, dass Vater und er das Geschäft gemeinsam führen würden.
Paris, 2. Oktober 1890
In einer Buchhandlung am Louvre, in der ich mich heute nach weiteren Werken von Jules Verne erkundigt habe, kam ich mit einem Verkäufer ins Gespräch. Er kannte alle Titel und hat mir verraten, dass die Reise um die Welt bereits einige Jahre vor Erscheinen des Buches von einem amerikanischen Geschäftsmann unternommen wurde. So ähnlich hat es Jules Verne ja auch Mrs. Bly erzählt. So ist an einer erdachten Geschichte wohl immer etwas Wahrheit.
Paris, 1. November 1890
Mein Geburtstag ist eher langweilig. Ich sitze nur herum, nicht einmal die Post ist gekommen. Es ist ein langweiliger Samstagvormittag. Victor hat noch Dienst. Wenigstens führt er mich heute Abend zum Essen aus. Ich schwöre, meine nächsten Geburtstage will ich nicht so alleine verbringen. Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Victor hat extra den Dienst getauscht, damit wir den Sonntag zusammen verbringen können. Ich muss mich jetzt zwingen