Nesthäkchen im weißen Haar. Else UryЧитать онлайн книгу.
ja, sie wußte es, daß sie den alternden Großeltern zum Sonnenschein geworden war, der ihr Haus erhellte und erwärmte. Daß sie selbst wieder jung wurden in dem Bestreben, mit der jungen Enkelin Schritt zu halten, ihr auf all den Wegen, die eine neue Zeit erschloß, zu folgen. Und das alles wollte sie ihnen entziehen? Noch waren sie rüstig, die lieben beiden, die Großmama bei weitem mehr als der Großpapa. Aber wie der Herbst dort die Blätter von der Linde streifte, so würden auch sie mehr und mehr entblättern, ihre Kräfte allmählich hinschwinden fühlen. Es war der Lauf der Natur. Und dann wollte sie die Großeltern treulos im Stich lassen als Lohn für all ihre Liebe? Im fernen Lande fremden Menschen helfen, während ihr Herz hier in Deutschland bei den Großeltern fest verankert war?
Wer sagte ihr, wo ihre Pflicht lag?
2. Kapitel
Am Scheidewege
Großmama und Großpapa hielten ihr Nachmittagsschläfchen. Der alte Geheimrat auf dem Sofa, Frau Annemarie daneben in dem bequemen Ledersessel, wie sie es nun schon seit Jahren gewöhnt waren. Die Zeitung war der geäderten Hand des Schlafenden entfallen. Seine tiefen Atemzüge mischten sich mit dem Summen einer respektlosen Fliege.
Frau Annemarie schlief nicht. Sie blickte von der Uhr drüben an der Wand unruhig zum Fenster, das die schon schrägen Sonnenstrahlen einfing. Wo das Kind nur blieb? Mußte es nicht längst hier sein? Eine halbe Stunde Fahrt, der Weg zum Bahnhof und das letzte Stück hier draußen – wieder befragte sie mit angstvollen Augen die Uhr. Nein, wirklich, um eine halbe Stunde hatte sie sich verspätet. Wenn da nur nichts passiert war. Man las jetzt so viel von Unglücksfällen. Gut, daß ihr Mann schlief und nichts von ihrer Unruhe merkte. Rudi würde sie auslachen wie stets, wenn sie um Mariettas Ausbleiben sorgte. »Binde doch das Mädel an dein Schürzenband fest, daß es dir nicht entlaufen kann. Seitdem die Frau auf die Siebzig lossteuert, wird sie immer wunderlicher.« Trotzdem Frau Annemarie knapp die Mitte der Sechziger überschritten hatte, pflegte ihr Mann sie damit aufzuziehen. Das heißt, wenn er guter Laune war. Dies war jetzt durchaus nicht immer der Fall. Frau Annemaries Blick wanderte von der unaufhaltsam weiter tickenden Uhr zu dem Gesicht des Schlafenden. Sie konnte es sich nicht verhehlen, daß er stark gealtert war seit der schweren Krankheit damals vor fünf Jahren. Die Stirn reichte fast bis zum Hinterkopf. Jahre verantwortungsvoller Arbeit hatten Falten und Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Und immer noch gab es keinen Feierabend für den gewissenhaften Arzt. Wenn auch die Praxis allmählich abbröckelte, an Jüngere überging, der Stamm seiner Patienten war dem alten Geheimrat Hartenstein treu geblieben. Ja, es gab viele, die sich in der chirurgischen Klinik, der er noch immer vorstand, lieber den altbewährten Händen anvertrauten als den jüngeren seiner Assistenten. Wenn nur die Augen mit seiner Willenskraft gleichen Schritt gehalten hätten. Aber die ließen seit geraumer Zeit nach und machten Frau Annemarie fast noch größere Sorgen als ihrem Manne selbst. Augenblicklich aber war es die Enkelin, die all ihre Gedanken in Anspruch nahm. Denn irgend etwas zum Sorgen mußte sie immer haben, sonst wäre ihr nicht wohl, behauptete ihr Mann. Es ging auf drei – – was mochte Marietta nur passiert sein?
Geräuschlos erhob sich die alte Dame. Ganz so leichtfüßig wie früher war sie auch nicht mehr. Das linke Bein streikte, besonders wenn sie eine Weile gesessen hatte, dann mußte es erst wieder in Gang kommen. Ja, ja, man wurde eben nicht jünger. Behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken, begab sich Frau Annemarie zum Fenster. Und als ob sie die Enkelin mit der Kraft ihrer Gedanken magnetisch herbeigezogen hätte, ging da gerade die Gartentür. All der Sonnenglanz, den das Fenster einließ, schien sich in den noch heute leuchtend blauen Augen der alten Frau zu spiegeln.
»Da ist es, unser Kind. Ich hab's ja gewußt, daß es nichts weiter auf sich haben würde.« Obgleich sie eigentlich gerade das Gegenteil angenommen hatte. Viel hätte nicht gefehlt, dann hätte Frau Annemarie temperamentvoll gegen die Scheibe geklopft, um der heimkehrenden einen Gruß zuzuwinken. Aber fünfundvierzig Ehejahre hatten sie doch zu gut erzogen. Der Schlaf ihres Mannes war ihr heilig. Warum schaute das Kind denn gar nicht auf? Es ging so in Gedanken verloren, als habe es Gott weiß was für schwere Rätsel zu lösen. War es von seiner neuen Tätigkeit nicht befriedigt?
Das steife Knie der Großmama mußte mit, ob es wollte oder nicht. Vorsichtig zur Tür – ihr Mann rührte sich nicht. So – nun war sie draußen. Ob Frau Trudchen auch alles für Marietta recht heiß gehalten hatte?
Sie steckte den Kopf zur Küche hinein, wo Frau Trudchen, die getreue Schaffnerin des geheimrätlichen Hauses, die dampfende Suppe auffüllte, während ihre Adoptivtochter, die dreizehnjährige Lotte, bereits mit dem Tablett darauf wartete.
»Nun, Trudchen, alles in Ordnung? Ist auch die Soße inzwischen nicht zu sehr eingepruzzelt? Vergessen Sie nicht, das Ei zum Spinat zu kochen. Unser Kind sieht blaß aus. Wir müssen es ein bißchen pflegen.«
»Mein Jott, nu hat Frau Jeheimrat schon wieder keine Ruhe nich jehabt. Als ob Lotteken und ich Fräulein Marietta nich jut versorgen täten. Frau Jeheimrat is doch kein Jüngling mehr und braucht ihr Nachmittagsschläfchen wie jeder bejahrte Jreis.« Wirklich, Frau Trudchen, die allzeit treu sorgende, war recht unzufrieden mit ihrer Herrin.
Die klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Nanu, was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen, Trudchen? Ein Jüngling bin ich mein Lebtag nicht gewesen, und ein bejahrter Greis werde ich auch niemals sein.« Sie lachte herzlich, daß es auch über das breite Gesicht der Dienerin wie Sonnenleuchten durch gewitterschwere Wolken ging. Lottchen aber stimmte so belustigt in das Lachen der alten Dame ein, daß auch die Suppe in dem Teller ausgelassen über den Rand schwippte. So ansteckend wirkte Frau Annemaries Lachen noch immer.
»Na, da haben wir's ja, Lotteken, kannste dich nich 'n bißchen vorsehen. Und Frau Jeheimrat braucht auch jar nich so zu lachen, wenn man's jut mit ihr meinen tut«, ereiferte sich Frau Trudchen.
»Das weiß ich ja, daß das Krakeelen nur auswendig ist, Trudchen. So, Lottchen, nun trage die Suppe rein. Ei, da bist du ja, mein Seelchen. Es ist recht spät geworden.« Die letzten Worte waren an Marietta gerichtet, die in diesem Augenblick auf der zum oberen Stockwerk führenden Treppe auftauchte. Sie hatte oben ihr Stübchen, dasselbe, das ihre Mutter einst bewohnt, wo sie inzwischen abgelegt und sich gewaschen hatte.
»Großmuttchen, du nicht in deinem Lehnsessel? Das ist aber unrecht, daß du mir deinen Nachmittagsschlaf opferst. Das darfst du nie wieder tun. Versprich es mir.« Liebevoll zog Marietta den Arm der Großmama durch den ihrigen und betrat mit ihr das Speisezimmer, wo Lotte und die Suppe schon auf sie warteten.
»Fängst du auch noch an, deine alte Großmutter herunterzuputzen? Frau Trudchen hat das schon zur Genüge besorgt«, scherzte die Großmama. »Schlaf du mal, wenn du in Sorge bist, daß irgend etwas passiert sei.«
»Ja, was soll denn passiert sein? Großmuttchen, du siehst am hellen Tage Gespenster.« Marietta unterbrach Lottchen, die ihr freudestrahlend berichtete, daß sie unter dem Exerzitium, das Marietta ihr durchgesehen, »très bien« bekommen. »Ich kann gar nicht früher zu Hause sein. Hast du die Absicht, dich jeden Tag um mein spätes Heimkommen aufzuregen? Dann esse ich lieber im Internat der Frauenschule, Großmuttchen. Es wäre vielleicht überhaupt richtiger, daß ich Frau Trudchen nicht doppelte Mühe mache«, überlegte das junge Mädchen, zum Löffel greifend.
»Du bist wohl nicht ganz bei Troste, Kind! Willst deiner Großmama das Geld vertragen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Und Frau Trudchen würde dir das sicher übelnehmen. Nun iß, Seelchen, iß und laß dir's schmecken.« Die Großmama begleitete jeden Löffel Suppe, den Marietta an die Lippen führte, liebevoll mit ihren Blicken. Es schien ihr im Geiste besser zu munden als der Enkelin selbst.
»Von dem Spinat mußt du noch nehmen, Jetta. Er ist besonders gut. Spinat ist eisenhaltig, der geht ins Blut. Wie blaß du wieder aussiehst. Habt ihr auch gesunde, luftige Schulräume dort? Nein, nein, nicht erzählen, erst essen.« Obgleich Frau Annemarie begierig war, Näheres über den ersten Tag in der sozialen Frauenschule zu hören, überwog doch ihre Fürsorge. »Ich hätte ja gern mit dem Essen auf dich gewartet. Aber du weißt ja, Großpapa ist ungemütlich, wenn es nur fünf Minuten nach halb zwei wird. Du brauchst keine Angst zu haben, wir bleiben bei