Die blaue Hand. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
sagte er leichthin. »Ich würde ebensowenig daran denken, einen kleinen Hund zu verletzen, als Sie mit dem Messer zu schneiden.«
»Davon bin ich auch überzeugt«, sagte sie dankbar.
Digby Groat war ein schlauer Mann. Er wußte genau, daß Jim wieder mit Eunice zusammentreffen und ihr von seinem Erlebnis im Laboratorium auf seine Art erzählen würde. Es war daher notwendig, daß er ihr die Geschichte zuerst mitteilte, denn er wollte sie nicht irgendwie verletzen, sondern in möglichst gute Beziehungen zu ihr kommen. Er hatte sie zu seinem eigenen Vorteil und zu seinem Amüsement in das Haus gebracht, und er erkannte jetzt, daß sie noch viel schöner und begehrenswerter war, als er sich jemals vorgestellt hatte.
Digby war ein Kenner weiblicher Schönheit und war eigentlich vor dem Frühstück etwas bange gewesen, denn das schöne Aussehen der Frauen verträgt selten helles Tageslicht. Er war noch niemals wirklich verliebt gewesen, obgleich er schon viele Frauen kennengelernt und wieder verabschiedet hatte. Aber Miss Weldon hatte von allen bis jetzt den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht. Sicher würde sie ihm einige Wochen die Langeweile verkürzen und ihn den grauen Alltag vergessen lassen, bis wieder eine neue Sensation kam.
Die Probe fiel glänzend für sie aus. Ihre zarte Haut, durch kein Verschönerungsmittel berührt, war fleckenlos rein, ihre glänzenden Augen strahlten, und ihr ganzes Aussehen sprach von Gesundheit und Natürlichkeit. Ihre Hände waren vollkommen.
Eunice selbst fühlte sich weder von ihm angezogen noch durch ihn abgestoßen. Digby Groat war für sie einer der vielen, denen man im Leben begegnet, die man sieht oder nicht sieht, die interessant oder unangenehm wirken können. Mit einigen wird man vorübergehend bekannt, spricht mit ihnen, einige sieht man nur im Vorübergehen, und sie verschwinden aus dem Gesichtskreis, um nie wieder aufzutauchen.
»Meine Mutter kommt niemals zum Frühstück herunter«, erwähnte Digby im Laufe der Unterhaltung. »Glauben Sie, daß Ihre Beschäftigung Sie befriedigen wird?«
»Ich weiß noch nicht, worum es sich handelt.«
»Meine Mutter ist ein wenig sonderbar, ich möchte fast sagen, exzentrisch. Aber ich glaube, Sie sind verständig genug, um mit ihr fertig zu werden. Die Arbeit wird in der ersten Zeit gerade nicht sehr schwer sein. Ich hoffe, daß Sie später vielleicht fähig sein werden, mir bei meinen anthropologischen Studien zu helfen.«
»Das klingt schrecklich wichtig. Was bedeutet das?«
»Ich studiere Gesichter und Köpfe«, sagte er leichthin, »und habe zu diesem Zweck viele Fotografien aus allen Teilen der Welt gesammelt. Mit der Zeit will ich eine Sammlung von über einer Million Bildern zusammenbringen. Diese Wissenschaft ist in unserem Lande bis jetzt sehr vernachlässigt worden. Die Italiener haben viel darin geleistet. Wahrscheinlich haben Sie schon von Mantegazza und Lombroso gehört?«
Sie nickte.
»Das sind die großen Kriminalisten, nicht wahr?« sagte sie zu seinem Erstaunen.
»Ach, Sie haben sich schon etwas damit beschäftigt?«
»Das ist sehr verlockend für mich!« Sie sah ihn begeistert an.
»Ich würde Ihnen sehr gern bei dieser Arbeit helfen, wenn Ihre Mutter nicht zu viel Arbeit für mich hat.«
»Die wird Ihnen schon freigeben können.«
Ihre Hand lag auf dem Tisch ganz nahe bei der seinen, und er war in Versuchung, sie zu streicheln. Aber er beherrschte sich und berührte sie nicht. Er wußte menschliche Charaktere gut und schnell zu beurteilen. Wenn es eine andere Frau gewesen wäre, hätte er seine Hand liebenswürdig auf die ihre gelegt; sie hätte verwirrt gelacht, die Augen niedergeschlagen, und das übrige hätte sich dann schon gefunden. Aber bei Eunice durfte er nicht so vorgehen, sonst würde sie wahrscheinlich heute Abend nicht mehr im Hause sein. Aber er konnte ja warten, und sie war es auch wert, daß man auf sie wartete, denn sie war wirklich entzückend. Die halbe Freude des Lebens liegt in der Jagd nach Vergnügen, und die Jagd danach ist nur eine Form heftigen Vorgenusses. Manche Menschen finden die größte Befriedigung darin, sich in ihrer Phantasie Freuden auszumalen, die früher oder später in Erfüllung gehen müssen, und Digby Groat gehörte zu diesen.
Als sie aufschaute, begegnete sie einem seiner brennenden Blicke und errötete. Mit Überwindung sah sie ihn noch einmal an; aber nun war nichts Ungewöhnliches mehr an ihm zu sehen.
7
Die ersten Tage in ihrer neuen Stellung waren eine harte Probe für Eunice Weldon.
Sie beklagte sich am dritten Tag während des Frühstücks bei Digby, daß Mrs. Groat ihr überhaupt nichts zu tun gebe.
»Ich fürchte, daß ich hier überflüssig bin«, sagte sie. »Es ist nicht recht, daß ich unter diesen Umständen Gehalt von Ihnen annehme.«
»Warum denn?« fragte er schnell.
»Ihre Mutter zieht es vor, ihre Briefe allein zu schreiben. Außerdem scheint ihre Korrespondenz wenig umfangreich zu sein!«
»Ach was, Unsinn!« erwiderte er scharf. Als er aber sah, daß er sie durch seinen Ton beleidigte, sprach er liebenswürdig weiter. »Meine Mutter ist nicht daran gewöhnt, daß man ihr hilft, sie ist eine der Frauen, die alles allein tun wollen. Deshalb sieht sie ja auch so angegriffen und alt aus, weil sie sich so sehr abgearbeitet hat. Es gibt hundert Aufgaben, die sie Ihnen übertragen könnte. Aber Sie müssen es der alten Frau zugute halten, Miss Weldon. Es dauert lange Zeit, bevor sie Zutrauen zu fremden Menschen faßt.«
»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie und nickte.
»Meine arme Mutter ist ganz auf sich beschränkt«, meinte er lächelnd, »aber ich bin sicher, daß sie Ihnen noch genügend zu tun gibt, wenn sie Sie erst kennenlernen wird.«
Nach dem Frühstück ging er gleich in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht dort, sondern in ihrem Ankleidezimmer, wo sie dicht am Kamin neben einem offenen Feuer saß. Er schloß die Tür sorgfältig und ging zu ihr hinüber. Sie schaute ihn furchtsam an.
»Warum gibst du dem Mädchen nichts zu tun?« fragte er. scharf.
»Ich habe doch nicht so viel zu tun«, entgegnete sie weinerlich. »Hör, Digby, das ist eine ganz überflüssige Ausgabe, ich kann sie gar nicht leiden.«
»Du wirst ihr von heute ab Arbeit geben – ich möchte dir das nicht noch einmal sagen müssen!«
»Sie wird mich nur ausspionieren. Du weißt doch, daß ich seit Jahren keine Briefe mehr geschrieben habe, mit Ausnahme des Briefes an den Rechtsanwalt, den ich auf deine Veranlassung hin schrieb.«
»Also du wirst ihr Arbeit geben«, wiederholte Digby Groat. »Hast du mich verstanden? Lasse sie doch alle die Rechnungen durchsehen, die du in den letzten Jahren bekommen hast. Sie soll sie sortieren und alle Ausgaben sorgfältig in ein Buch eintragen. Auch deine Bankabrechnungen kannst du ihr geben. Sie soll die Schecks damit vergleichen. Verdammt noch einmal – wenn du nur wolltest, hättest du wirklich genug für sie zu tun! Das kannst du doch wahrhaftig veranlassen; es ist schauderhaft, daß ich dich immer beaufsichtigen muß!«
»Ich will es tun, Digby«, erwiderte sie schnell. »Du bist wieder recht hart und böse zu mir. Ich hasse dies ganze Haus!«, rief sie plötzlich heftig. »Ich hasse die Leute hier im Hause. Heute morgen habe ich in ihr Zimmer gesehen, das sieht ja aus wie ein Palast. Es muß ja Tausende von Pfund gekostet haben, nur diesen Räum einzurichten. Das ist doch einfach eine Sünde, so viel für ein einfaches Mädchen auszugeben!«
»Das geht dich gar nichts an! Du sollst ihr für die nächsten vierzehn Tage Arbeit geben!«
Eunice war überrascht, als Mrs. Groat sie rufen ließ.
»Ich habe etwas für Sie zu tun, Miss – ich kann mir Ihren Namen nicht merken.«
»Eunice«, sagte das junge Mädchen lächelnd.
»Ich kann den Namen Eunice nicht leiden«, murmelte die alte Frau vor sich hin.