Die Bluthunde von Paris. Christina GeiselhartЧитать онлайн книгу.
beim morgendlichen Verspeisen der Milchsuppe, in der Brot schwamm. Hin und wieder gab es Eier und Speck zum Frühstück, es hing von Leas Laune ab. War sie guter Dinge, füllten sich die Regale im Kellerraum mit Käse, Butter, Fleisch und Eiern. War sie schlechter Laune, gab es morgens und abends nur Kartoffeln. Diese wuchsen tief in der Erde in einer Rabatte im Garten. In letzter Zeit war Lea bester Laune. Sie trug Ketten und Armbänder, die sie auf dem Markt erworben hatte, schmückte ihr Haar mit Spangen und vergaß auch Philippine nicht. Als diese sagte, sie möge ihr lieber Butter und Brot für die arme Frau und die verwahrlosten sieben Kinder in einer Höhle im Wald geben, lobte Lea ihre Tochter.
Doch in ihrem Lob schwang ein spöttischer Unterton.
„Das ist ein guter Zug von dir, mein Kind. Frieda und ich kümmern uns darum, dass es manchem Kerl besser geht und du hilfst den Elenden.“
„Was soll das heißen: dass es manchem Kerl besser geht?“ Karl ließ den Löffel sinken. Es war ein schäbiger Löffel, an dem der Geschmack nach fauligem Holz haftete. So empfand es jedenfalls Philippine, denn sie verzog das Gesicht, als sie ihren Löffel im Mund hatte. Sie saßen zu viert am Tisch und aßen von der Suppe. Es war Abendzeit.
„Bist du taub, oder was? Habe ich es dir nicht schon tausendmal erklärt? Frieda und ich arbeiten in feinen Häusern und pflegen sieche Grafen, Herzöge und Edelmänner. Sie können sich kaum noch rühren und sind auf ihre alten Tage sehr spendabel, weil wir adrette Weiber sind und nicht flachbrüstige Hühner mit Glotzaugen wie die christlichen Pflegerinnen.“
„Ich kann nur hoffen, ihr pflegt nicht mit euren Hintern.“ Karls Augen hatten einen glasigen Schimmer. Träge tauchte er den Löffel wieder in die Suppe. Lea antwortete mit einem schmutzigen Lachen, das Philippine in die Glieder fuhr. Vergeblich versuchte sie, das Bild zu verscheuchen, das sich vor ihrem geistigen Auge abzeichnete: Ihre Mutter und Frieda pflegten mit entblößten Brüsten. Lüsternheit loderte in ihren Gesichtern.
„Warum eigentlich nicht, lieber Mann?“
Lea stand auf. Sie ging um den Tisch herum und lehnte sich von hinten an ihren sitzenden Mann. Entgeistert sah dieser auf.
„Manchmal habe ich darüber nachgedacht, wie schön es in unserer Kasse klingen würde, könnten wir unseren Hintern einsetzen. Aber natürlich nur mit deiner Erlaubnis.“
„Niemals!“ Karls Rücken wurde steif. Er zuckte nach hinten und stieß dabei seine Frau von sich. Zum Glück sah er nicht den Ausdruck, der ihr Gesicht plötzlich verzerrte. Eiskalt lief es Philippine den Rücken hinunter. Etwas Mörderisches, Diabolisches drückte sich dort aus und unerwartet kam dem Mädchen die Schwester Alberta in den Sinn. Wochenlang hatte sie kaum an die arme Tote gedacht, da ihr Denken und Fühlen von Monsieur Maxence erfüllt war. Warum fiel sie ihr jetzt ein? Im Angesicht des grausamen Ausdrucks ihrer Mutter? Eine schmerzliche Leere breitete sich in dem Mädchen aus. Trauer und Verlorenheit quälten ihre Seele. Sie hätte weinen mögen, aber die schadenfrohe Lüsternheit, die geballt und aggressiv von Lea ausging und sich in Schwester Frieda widerspiegelte, verkrusteten Philippines Tränen. Nein, nein!, echote es in ihrem Innern. Nicht Tränen sind sie wert, die Verirrten. Auch nicht Mitleid oder Verzeihen. Verstoße sie aus deinem Herzen.
„Nur über meine Leiche! Du bist meine Frau, dein Hintern gehört mir allein. Ich habe ihn befruchtet und dir viele Kinder geschenkt. Entweihe ihn nicht!“, bellte der Vater. Er hatte sich umgedreht, Lea sein Gesicht zugewandt. Und nun betrachtete Philippine seinen Ausdruck, ebenso entstellt und niedrig wie der seiner Frau und doch so anders. Zerfurcht, ergraut, von Warzen gezeichnet. Alles Leiden spiegelte sich darin, vermutlich auch das seiner Opfer in der Folterkammer. Und das Mädchen erinnerte sich an den Tag in der Morgue, als sie Alberta identifizieren mussten. Gekrümmt, niedergeschlagen, fassungslos, so sah ihr Vater nach dem grässlichen Besuch aus. Sie dachte: Ja, der Pfarrer von Saint-Ouen hat Recht: Vater ist ein bedauernswerter Tropf, der sein Brot auf schändliche Weise verdient, aber er hat einen guten Kern.
Dann wurde ihr plötzlich schlecht. Der Löffel in ihrer Hand zitterte, sie starrte auf die Kuhle, in der die Suppe schwamm und meinte Schimmel und tote Ameisen zu entdecken. Doch es war nur ihre Phantasie. Leas Gemüsesuppe war tadellos. Dafür sorgte die Hausherrin schon um ihrer eigenen Gesundheit willen. Schwankend stand die Jüngste auf.
„Entweihe ihn nicht!“, höhnte Lea. „Hältst du dich für einen Heiligen, lieber Mann?“ Während sie auf ihren Platz zurückkehrte, rief sie Philippine nach: „Du siehst verdammt grün aus, mein Kind. Die Suppe kann es nicht sein, aber vielleicht sind es die Elenden im Wald. Komm ihnen nicht zu nahe, du kannst dir die übelsten Seuchen holen.“
Betäubt eilte Philippine in ihre Schlafkammer. Betäubt und angeekelt von Menschen, die sie Mutter und Schwester nennen musste, in deren Nähe sie leben, schlafen und träumen musste. Am schlimmsten empfand sie es in der Nacht. Wie jetzt. Bald würde sich Frieda in das Bett neben ihr legen und ihr Fragen stellen. Sie würde die sanfte Ruhe stören, in der sie sich ihren Alkoven mit Maxence einrichtete. Friedas Atem verunreinigte ihren Traum vom stillen Glück und schlief die Schwester dann endlich ein, raunte ihr leises Schnarchen wie fernes Donnergrollen durch die Nacht. Dann konnte Philippine keinen Schlaf finden und vergeblich griff sie nach ihrem Traum. In dieser Nacht jedoch war sie so betäubt und abgestoßen von ihrer Familie, dass sie sich in den Traum flüchtete, um nicht noch mehr leiden zu müssen. Sie holte die letzten Stunden mit Maxence zurück.
Und in den Kulissen ihrer Phantasie erschien ihr der Mann noch anziehender, noch schöner und alles was er sagte, zweifelte sie nicht mehr an. Am gestrigen Nachmittag hatte er zum ersten Mal von sich gesprochen. Er sei der Sohn eines edlen Mannes, der in Bordeaux als Buchhalter arbeite und sich wenig um das schere, was um ihn herum geschah. Aber Frankreich leide, das Volk hungere, Missernten und eine schlechte Politik verwandelten Frankreich schrittweise in ein Totenreich, in dem der König, seine Königin und sein dekadenter Hofstaat gespenstisch regierten.
„So kann es nicht weitergehen. Wir müssen uns erheben!“, hatte er leidenschaftlich gerufen. „Ich heiße Maxence Victurnien Vergniaud und bin kein Träumer wie mein Vater. Er ist noch jung und könnte die Welt aus den Angeln heben mit seiner Energie aber er sitzt in seiner geliebten Gironde, im schönsten Teil von Bordeaux, genießt das Leben, hat wechselnde Maitressen seit meine Mutter tot ist. Er schimpft auf die Minister des Königs, tut aber nichts, um etwas zu ändern. Ich allerdings, ich werde mit Gleichgesinnten dafür sorgen, dass Louis XVI der letzte König sein wird. Die Zeit der Könige ist abgelaufen. Zu viele Irrtümer und Misswirtschaft haben sie unglaubhaft gemacht. Louis zum Beispiel unterstützt die amerikanische Revolte, die sich gegen die englische Vorherrschaft erhebt und verbraucht dabei fast eine Milliarde Francs. Er wird von seinen Finanzministern übervorteilt.“ Obwohl Philippine nicht alles glauben konnte, hatte sie nie Einwände erhoben. Im Gegenteil, sie hatte reges Interesse an weiteren Erklärungen gezeigt.
„Jacques Necker zum Beispiel legte dem König eine Bilanz vor, in der die enorme Staatsschuld als Gewinn erscheint. Der König lässt sich alles auftischen, solange es seine Ruhe nicht stört. Und als Innenminister Malesherbes dafür plädierte, den geheimen Haftbefehl des Königs ...“
„Sie meinen den lettre de cachet, der es erlaubt, jeden Bürger grundlos in die Bastille zu werfen und hinter ihren Mauern auf ewig verschwinden zu lassen?“, hatte sie dazwischen gerufen. Sie hatte in einer Ecke des Sofas gesessen, Maxence in der anderen. Noch nie war er ihr so nahe gewesen. An den hellen Steinwänden zeichneten sich ihre Schatten ab, warmer Geruch nach Holz erfüllte den Raum. Wenn sie nicht sprachen, hörten sie das Prasseln des Feuers und den Gesang von leise fallendem Schnee, unterbrochen vom wohligen Schmatzen Vraems. Maxence hatte den angrenzenden Raum vom Schotter befreit und Heu und Torf darin verteilt. Es war fünf Uhr nachmittags gewesen und der Abend kündigte sich an, doch Philippine hatte sich nicht von Maxence losreißen können.
„Als also Malesherbes den Haftbefehl zumindest zu mildern versuchte, sträubt sich der König unter dem Druck vieler Adliger. Denn, einmal abgeschafft, können sich die feinen Herzöge und Grafen ja nicht mehr so einfach der Leute entledigen, die ihnen lästig werden. Was ich damit sagen will: der König ist wankelmütig, unentschlossen. Er gehört nicht auf den Thron. Er ist noch immer das Kind, das er war, als er mit sechzehn Jahren Marie-Antoinette heiratete,