Penelope von der Polyantha. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
LUNATA
Penelope von der ›Polyantha‹
Kriminalroman
© 1926 by Edgar Wallace
Originaltitel Penelope of the Polyantha
Aus dem Englischen von Ravi Ravendro
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
1
Der kanadische Expreß stand abfahrtbereit in der Halle des Bahnhofs von Edmonton. Ein freundlicher älterer Herr sah zu einem der geöffneten Fenster hinauf.
»Penelope, ich habe einen sehr guten Freund in London. Wenn Sie jemals Hilfe brauchen sollten, so wenden Sie sich an ihn. Er wird Ihnen in jeder Lage beistehen. Das heißt, ich hoffe, daß er noch in London ist, obwohl ich monatelang keine Nachricht von ihm bekommen habe.«
Penelope Pitt trocknete ihre Augen mit einem zerdrückten Tüchlein, das vor kurzer Zeit noch ein schönes Damentaschentuch gewesen war. Sie versuchte zu lächeln.
»Ach, ich bin ja so kindisch, jetzt zu heulen«, sagte sie. »Dabei hasse ich Edmonton doch und bin glücklich, daß ich von hier fortkomme. Außer Ihnen ist niemand hier, den ich auch nur im mindesten gern hätte. Außerdem werde ich ja doch niemals nach London kommen. Wahrscheinlich nehme ich irgendwo hier in Kanada eine Stellung an.«
»Sie haben doch eine Karte nach Toronto«, sagte der praktische alte Herr. »Es gibt mehrere kleine Städte dort in der Nähe, wo Sie Ihr Glück versuchen können. Kootney ist zum Beispiel ein Platz, an dem Sie Aussichten hätten – hier schnell, nehmen Sie diesen Brief!«
Das Abfahrtssignal war gegeben worden.
»Er heißt Orford, James X. Orford. Wir gingen zusammen in die Schule. Und, Penelope, Sie schreiben mir doch, sobald Sie etwas gefunden haben?«
Sie warf dem weißhaarigen Herrn noch eine Kusshand zu, als der Zug den Bahnhof verließ. Das Rattern und Poltern der Räder übertönte ihr Schluchzen.
Das große Abenteuer hatte nun begonnen.
Als sie sich etwas gefaßt hatte und nun auf ihrem Platz saß, dachte sie zum x-ten Male, wie schwächlich es doch sei, sich so aufzuführen. Die Dame ihr gegenüber beobachtete sie mit ruhigen, unaufdringlichen Blicken. Penelope hatte sie vorhin schon im Seitengang gesehen und bewundert. Selbst der alte Richter Heron, der sie zur Bahn begleitet hatte, hatte seine Abschiedsworte unterbrochen, um das intelligente Gesicht und die aristokratische Haltung dieser schlanken Frau zu betrachten.
»Fahren Sie weit?« fragte sie nun. Die Stimme der Fremden war weich und klangvoll. Sie sprach etwas langgezogen, und Penelope vermutete, eine Engländerin vor sich zu haben.
»Ich fahre nach Toronto. Meine Pläne sind noch nicht – ja, ich fahre nach Toronto.«
»Sie hassen Edmonton auch? Ich kann diesen Ort nicht ausstehen. Es ist dort alles so wenig kultiviert. In allen Häusern riecht es nach frischem Holz – und erst die Hotels! Sie sind furchtbar teuer, ohne den geringsten Komfort zu bieten.«
Penelope haßte Edmonton keineswegs, obwohl sie das manchmal behauptete. Im Grunde liebte sie die Stadt sogar. Sie war in England geboren, aber Edmonton war ihre eigentliche Heimat, und es gab in diesem Augenblick keinen Weg, kein Haus und keinen Stein dort, an dem sie nicht gehangen hätte. Jetzt, da sie der rollende, dröhnende Expreß immer weiter fortbrachte, war ihr alles doppelt lieb und teuer. Sie haßte nicht einmal mehr den Kaufmann, dessen Sekretärin sie gewesen war, obwohl dieser nicht mehr allzu junge Herr sich bis über die Ohren in sie verliebt hatte. Seine Leidenschaft für sie war so weit gegangen, daß er seine Stellung, sein Haus und seine Familie aufgeben wollte, wenn sie nur mit ihm fliehen würde. Und dabei hatte er eine Tochter, die ebenso alt war wie sie. Aber seine Frau hatte beim Staubwischen im Schreibtisch ihres Mannes das Konzept seines Abschiedsbriefes gefunden. Ihr Chef hatte tatsächlich geglaubt, daß sie seinen Antrag annehmen würde, und in dem Schreiben rührenden Abschied von seiner Frau und seiner Familie genommen. Er führte genau auf, was er schon alles für ihren Unterhalt getan habe und was er noch tun wolle.
Penelopes Gleichmut war schon genügend erschüttert gewesen durch die Entdeckung, welchen Eindruck ihre grauen Augen auf ihren wenig anziehenden kahlköpfigen Chef gemacht hatten, aber sie mußte nun auch noch den Zornesausbruch seiner Frau über sich ergehen lassen. Nach der Auseinandersetzung war sie ganz verwirrt und schauderte vor all den Vorwürfen und Beleidigungen, mit denen die erbitterte Frau nicht gespart hatte.
»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich Edmonton eigentlich nicht hasse«, erklärte sie der Fremden. »Die Stadt ist mir lieb, nur – nun, ich bin froh, daß ich fortkomme.«
»Wollen Sie eine Reise nach England machen?«
»Das war eine meiner phantastischen Ideen«, erwiderte Penelope, und ihre Lippen zuckten. »Ich könnte ebensogut eine Reise zu den Plejaden planen.«
Die Dame runzelte die Stirn.
»Wohin?«
»Ich meine zu dem Sternbild«, erklärte das Mädchen.
Ihre Reisegefährtin nickte. Sie war wirklich hübsch. Ihre großen,