Der mündige Trinker. Peter SadowskiЧитать онлайн книгу.
Psychotherapie. So weist z.B. Grawe (1998) im Zusammenhang mit seiner Theorie zur Konsistenz bzw. Inkonsistenz auf unterschiedliche Therapieziele hin, die nach der Zielrichtung geordnet werden können: Vermeiden oder Anstreben.
In der psycho-edukativen Veranstaltung „Problemlösetraining“ (siehe Kapitel 8.2) wird der einzelne Patient angeregt, seine Bedürfnisse und Interessen zu sichten und zu ordnen. Das negativ definierte Therapieziel „Abstinenz“, nämlich das Vermeiden des Konsums von Alkohol, kann auf diese Weise überführt werden in ein positives Ziel, nämlich das Anstreben relativer Zufriedenheit (in Abstinenz).
2.4 Authentische Erlebnisse vor induzierten Erlebnissen
Eine besondere Schwierigkeit jeder psychotherapeutischen Anstrengung besteht darin, das Gegenüber nicht nur auf der kognitiven Ebene anzusprechen. Im Allgemeinen wird es für wirkungsvoller gehalten, wenn die Kognition mit emotionalen Auswirkungen verbunden ist (siehe z.B. Grawe, 1998, 2004; Schiepek, Lambertz, Perlitz, Vogelei & Schubert, 2003; Schneider, Gödecke-Koch, Paetzold, Becker & Emrich, 2003). Wenn nicht nur das Erleben, sondern auch das Verhalten involviert ist, wird eine noch höhere Wirksamkeit erwartet. Alle Überlegungen zu Rollenspielen ruhen auf dieser Erwartung.
In der Fachklinik für Abhängigkeitsrehabilitation der Johanna-Odebrecht-Stiftung wird davon ausgegangen, dass die Wirkung solcher Erlebnisse umso größer ist, je näher sie an der Lebenswirklichkeit des Patienten ist. Deshalb wird angenommen, dass Erlebnisse des Realitätstrainings (siehe Kapitel „Realitätstraining“ Kapitel 6.6.7) wirksamer zu bearbeiten sind als vorgegebene Aufgaben, die, aus der Sicht des Patienten, relativ fern zu seiner Lebenswirklichkeit stehen. Als mindestens ebenso wirksam werden Erlebnisse im Klinikalltag angesehen. Wenn in einer aktuellen Situation aus dem Klinikalltag ein kritisches Verhalten aufgegriffen werden kann und z.B. zu diesem Verhalten alternative Verhaltensproben durchgespielt werden können, sollte diese Möglichkeit bevorzugt genutzt werden.
Die Hoffnung auf eine gute Wirkung solcher Interventionen wird abgeleitet aus dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen kritischem Verhalten und Intervention einerseits und andererseits aus der hohen Bedeutung des kritischen Verhaltens und seiner Veränderung für den Patienten. Unverzichtbare Voraussetzung für eine günstige Bewertung im Sinne des therapeutischen Prozesses, durch den Patienten ist es, dass der Patient eine eigene Entscheidung trifft, das eigene kritische Verhalten sichtet und das eigene Verhalten über Verhaltensproben erweitert.
2.5 Minimale Intervention
Diese Argumentation von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) findet Entsprechungen in dem Denkgebäude des Rechtsstaates (durch das Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist z.B. die Exekutive gehalten, zur Abwehr von Gefahren das so genannte mildeste Mittel anzuwenden). Das ist übrigens keine Errungenschaft einer modernen Verfassung; der Volksmund wusste um solche vernünftigen Vorgehensweisen schon lange (Man schießt nicht mit Kanonen auf Spatzen).
Für die Rehabilitation von Alkoholabhängigen heißt das, dass nur jeweils so viel Therapie angeboten wird, wie unbedingt nötig ist. Dieses Prinzip bezieht sich sowohl auf die Intensität der Intervention (Beratung, ambulante Therapie, Entzug, stationäre Rehabilitation) als auch auf die Dauer der Maßnahme unter der jeweiligen Intensität. Das Prinzip der minimalen Intervention bedeutet für die Praxis, dass der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten bei der Wahl der Interventionen und Maßnahmen jederzeit berücksichtigt, ob ein milderes Mittel ebenfalls Erfolg versprechend sein könnte.
Alle Überlegungen zu Interventionen innerhalb der stationären Rehabilitation sind eingebunden in die Vorgaben der Kostenträger zur Erfolgsaussicht der Maßnahme. Wenn aus fachlicher Sicht eine Maßnahme mit einer bestimmten Zeitdauer und einer bestimmten Intensität angezeigt zu sein scheint (auf dem Boden des jeweils gültigen Konzeptes), finden diese fachlichen Überlegungen jedoch ihre Grenzen in der Motivation des jeweiligen Patienten.
Ein Patient will nur eine möglichst kurze Abwesenheit aus dem gewohnten sozialen Feld hinnehmen; aus fachlicher Sicht ist aber eine längere fachliche Intervention geboten,
z.B. wegen der Hinweise auf eine verlangsamte Lerngeschwindigkeit (z.B. Abgang aus der Schule nach der achten Klasse ohne Abschluss oder Berufsausbildung als Teilfacharbeiter beendet oder wegen beidem) oder
wegen der außerordentlich belastenden Bedingungen des sozialen Feldes (z.B. Belastungen durch eine psychisch kranke Ehefrau in professioneller Behandlung, Schulden, Ausbildung der Kinder in der Sonderschule) und den daraus folgenden höheren Ansprüche an die Lernergebnisse, z.B. Fähigkeiten zur Bewältigung besonderer sozialer Schwierigkeiten.
Der individuelle Motivationszustand wird in Beziehung zu setzen sein zu einem Mindestmaß an Erfolgsaussicht der Maßnahme, wie sie von Kostenträgern gefordert wird. Grundsätzlich könnte man einen solchen Patienten wegen zu geringer Erfolgsaussicht für unsere Kombitherapie mit einer relativ kurzen stationären Aufenthaltsdauer und einer längeren ambulanten Rehabilitationsphase ablehnen. Unter Berücksichtigung dieser Überlegung kann es jedoch sinnvoll sein, auch dann einen Patienten in die stationäre Rehabilitation aufzunehmen, wenn Konzept und Erfahrungen eine längere Behandlungszeit erwarten lassen, der Patient innerlich aber nur auf eine kürzere Behandlungszeit eingestellt ist.
Hinter dieser Überlegung steht auch wieder die ethische Orientierung der Einrichtung und der Therapeuten: Bei Behandlungsbedürftigkeit ist eine möglicherweise unvollständige Behandlung besser als gar keine Behandlung.
Den gesetzlichen Kostenträgern fällt es grundsätzlich relativ leicht, über ihre rechtliche Anbindung an das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ethisch untermauerten Argumenten zu folgen. Außerdem besteht die Chance, dass der betreffende Patient in der Behandlung eine Einstellungsänderung vornimmt.
Kanfer (1984–1997) sprach ausdrücklich von der Technik, „einen Fuß in die Tür zu bekommen“. In diesem Zusammenhang sprach er von der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Rollen Patient und Therapeut und verkündete als Leitsatz, man könne nur mit anwesenden Patienten arbeiten (siehe auch Kanfers Gesetze der Therapie im Kapitel „Beziehungen Patient-Therapeut“ Kapitel 1.3.1).
2.6 Der Erfolg ist die Mutter der Erfolges
Das ist ebenfalls einer der Leitsätze von Kanfer, die er bei der Ausbildung von Therapeuten häufiger formuliert hatte. Demnach hat der Therapeut Interventionen so zu gestalten, dass der jeweilige Patient die Interventionen in ihrer Gesamtheit jederzeit positiv bewerten kann, mindestens 51 % müssen vom Patienten positiv gesehen werden (Kanfer, 1984–1997).
Hilfsweise wird der Therapeut Erlebnisse des Patienten auf eine Weise zur Bewertung anbieten, die Anstrengungen von Patienten und (auch kleine) Erfolge ausdrücklich würdigen. Er würde es tun in der Hoffnung, dass der Patient auch lernt, kleine Erfolge zu beobachten und als Erfolge zu bewerten. Das elfte der „Kanfers 11 Gesetze der Therapie“ lautet: „Spare nicht mit Anerkennung für die Fortschritte von Klienten“ (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000, S. 553–555). In der Erklärung dieses Gesetzes wird fortgefahren mit den Worten: „Der Erfolg ist dieMutter des Erfolgs!“ (ebd, S. 555) und es wird weiter darum geworben,dass der Therapeut auch auf minimale Verbesserungen achten sollte und besonders jede kleine Eigeninitiative loben sollte.
Außerdem wird der Therapeut mit der Implikation arbeiten, dass der Patient im Laufe der Zeit schon vieles richtig gemacht hat. Auch die Bearbeitung mittelschwerer Rückfälle kann eingeleitet werden mit der Frage: Was haben Sie richtig gemacht, um diesen Rückfall relativ zeitig zu unterbrechen? (siehe auch hierzu die Kurzform von „Kanfers 11 Gesetze der Therapie“ im Kapitel „Beziehungen Patient-Therapeut“ Kapitel 1.3.1).
2.7