Der mündige Trinker. Peter SadowskiЧитать онлайн книгу.
und sorgfältig Doppeldiagnosen dokumentieren
der Therapeut kann vom Patienten eine Entscheidung fordern, welches Problem aus der gesamten Menge der vorliegenden Probleme vorrangig zu bearbeiten wäre (was ist am wichtigsten?)
der Therapeut kann vom Patienten eine Entscheidung fordern, ob vordringlich das Abhängigkeitsproblem oder die sozialen Probleme zu bearbeiten wären (erst Abhängigkeit oder erst soziale Probleme?)
der Therapeut kann vom Patienten eine Entscheidung fordern, ob zuerst die belastenden Bedingungen aus der Sicht der sozialen Situation verringert werden sollten oder ob vordringlich das protektive Potenzial der sozialen Situation zu stärken wäre (zuerst Schulden bearbeiten oder zuerst Unterstützung durch die Herkunftsfamilie verbessern?)
der Therapeut kann fordern, der Patient möge mit Hilfe der Bezugsgruppe oder des verbliebenen Stützsystems der Herkunftsfamilie oder des Freundeskreises zu einer Entscheidung kommen (im stillen Kämmerlein nachdenken oder mit der Bezugsgruppe oder Familie oder mit Freunden besprechen?)
der Therapeut kann fordern, dass vordringlich das Abhängigkeitsproblem bearbeitet wird
der Therapeut kann für den Patienten wegen der sozialen Probleme aktive Hilfe oder Hilfe zur Selbsthilfe oder beides über die Sozialarbeiter der Einrichtung organisieren.
Die Formulierung fordern hat natürlich einiges an Ruppigkeit, das innerhalb des therapeutischen Settings auch Unbehagen hervorruft. In der therapeutischen Praxis werden die Forderungen in Vorschläge gekleidet. Der Patient wird entscheiden, ob die vom Therapeuten vorgeschlagene Sicht der Problemlage sich mit der eigenen Sichtweise deckt.
Natürlich können hier wieder Prozesse zur Fehlerminimierung eingesetzt werden. Der Patient kann ermuntert werden, die Problemlage in der Bezugsgruppe zu besprechen. Der Therapeut wird sich in seinem Team vergewissern, welche Erfolgsaussicht der Wahl des Ansatzpunktes aus der Sicht der anderen Mitglieder des Teams innewohnt. Therapeut und Patient werden dann gemeinsam verhandeln, welcher Ansatzpunkt dann zu wählen wäre.
Die Notwendigkeit zur Gestaltung des psychotherapeutischen Prozesses durch den Therapeuten ist in der Einbindung in wirtschaftliche und rechtliche Systeme begründet. Die gesetzlichen Kostenträger können nicht so viel Behandlungszeit genehmigen, dass ausschließlich der Patient Rhythmus und Geschwindigkeit der Entwicklung bestimmen könnte. Der Therapeut wird versuchen, die subjektiv empfundene Not des Patienten soweit aufzunehmen, dass das Bemühen um den Aufbau tragfähiger Arbeitsbeziehungen erfolgreich bleibt. Er wird darüber hinaus weiterhin sorgfältig darauf achten, dass er sich durch die Menge der sozialen Probleme des Patienten, die Arbeit am intendierten therapeutischen Prozess nicht abhandeln lässt.
2.12 Der therapeutische Dreisprung (Typisch? Kritisch? Verändern?)
Weiter vorne wurde bereits dargelegt, dass es gute Gründe gibt, Alkoholabhängigkeit im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells zu betrachten, wenn es darum geht, intrapsychische Variablen zu identifizieren, die dauerhaft zu verändern wären, um die Chancen auf Bewältigung der Alkoholabhängigkeit zu verbessern. (Im klassisch-medizinischen Krankheitsmodell würde die Aufgabe des Identifizierens von Veränderungsbereichen dem Behandler zufallen. In der Selbsthilfeorganisation der „Anonymen Alkoholiker“ wäre diese Aufgabe jedem einzelnen der Betroffenen überlassen. „Wir machten eine furchtlose und vollständige Bilanz in unserem Inneren“, heißt es in einem der zwölf Schritte der „Anonymen Alkoholiker“ sinngemäß).
In enger Anlehnung an die Selbstmanagement-Therapie werden in der beschriebenen Vorgehensweise Patient und Therapeut gemeinsam zu einem Plausiblen Modell über die Entstehung der Abhängigkeit kommen. Teil dieses Modells werden änderungsbedürftige intrapsychische Variablen sein.
Das Erarbeiten eines individuellen Plausiblen Modells über Entwicklung und Bewältigung der Störung Alkoholabhängigkeit ist ein systematischer Weg, den Patienten in den Prozess des Identifizierens von individuellen Therapiezielen einzubeziehen.
Die zweite Quelle für das Identifizieren von individuellen Therapiezielen ist das Alltagsleben innerhalb der Klinik. (Aus diesem Grund ist das Tagesprogramm für Patienten auch nicht vollständig mit Vorgaben gespickt; es bleiben Zeiten, in denen Patienten auch ohne Anregung von außen die eigene Individualität präsentieren.) Im Klinikalltag findet ein fortlaufendes „Scannen“ der Patientenvariablen statt. Auch dieser Prozess soll von Patienten und Therapeuten gemeinsam getragen werden. Jede Auffälligkeit im Erleben und Verhalten von Patienten wird unter dem Gesichtspunkt bewertet, ob es sich bei dieser Auffälligkeit um eine Bedingung handeln könnte, die die Abhängigkeitsentwicklung angestoßen oder aufrechterhalten hat. Alle Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben des Patienten werden dem Patienten zur ausdrücklichen Bewertung angeboten.
Ergebnis dieser Bewertung wird sein, ob die gezeigten Auffälligkeiten etwas Personentypisches sind oder sich aus der Situation oder aus der Wechselwirkung von Situation und Person ergeben haben. Eine Teilmenge der typischen Personenmerkmale sind dann kritische Merkmale, das heißt, diese Merkmale könnten die Abhängigkeitsentwicklung gefördert haben. Aus dieser Menge wiederum werden nur wenige mit großer Intensität verändert werden können. Die veränderungswürdigen Personen-variablen werden möglicherweise vom Therapeuten vorgeschlagen, ausdrücklich als Arbeitspunkt jedoch erst benannt nach einer Entscheidung des Patienten.
Wenn sich die psychotherapeutische Intervention nicht in die gewünschte Richtung entwickeln lassen sollte, wäre es die Aufgabe des Therapeuten, diese Beobachtungen zu einer Hypothese zu verdichten und sie in seinen internen Pool von Hypothesen aufzunehmen. Bei weiteren psychotherapeutischen Interventionen mit diesem Patienten wären diese Hypothesen immer wieder zu testen.
Der Therapeut beobachtet z.B., dass der Patient Konflikte vermeidet. Der Therapeut entwickelt die Hypothese, dass der Patient die mit einem Konflikt verbundenen unangenehmen Gefühle vermeidet.
Im weiteren Verlauf der Behandlung müsste der Therapeut entscheiden, ob er von sich aus diesen möglichen Arbeitspunkt häufiger in den Vordergrund der Aufmerksamkeit bringt oder ob er andere Arbeitspunkte bevorzugt, weil jene vordringlicher oder Erfolg versprechender zu bearbeiten sind.
Der Patient könnte denken, dass er nur besonders oft seine Interessen benennen müsste, um dadurch die Menge seiner Konflikte gewissermaßen automatisch zu verringern. Der Arbeitspunkt des Patienten wäre dann nicht das Aushalten oder Verändern unangenehmer Gefühl im Konfliktfall, sondern das Üben des Thematisierens eigener Interessen bzw. Bedürfnisse.
Auch diese therapeutischen Entscheidungen sind grundsätzlich mit dem Patienten verhandelbar oder wenigstens transparent zu gestalten.
2.13 Humor
Wenn sich im therapeutischen Alltag Gelegenheiten ergeben, gemeinsam mit Patienten zu lachen oder zu schmunzeln, sollten diese Gelegenheiten genutzt werden. Natürlich ist sorgfältig darauf zu achten, dass Patienten (und natürlich auch Mitarbeiter der Einrichtung) sich nicht verletzt fühlen. Manchmal werden Gelegenheiten zum Lachen verpasst, weil Beteiligte fürchten, dass Herauskehren eines witzigen Aspektes oder Gelächter würden dem heiligen Ernst der Sache nicht angemessen sein. Andererseits kann man überlegen, ob ein befreiendes Schmunzeln oder Gelächter nicht gelegentlich manchem Drama die Spitze nimmt. Grundsätzlich erzeugt das Lachen beim Einzelnen Wohlbefinden. Eine therapeutische Situation wird auf diese Weise mit angenehmen intrapsychischen Zuständen verbunden. Patienten und Therapeut können nach gemeinsamem Schmunzeln oder Lachen hoffen, dass
zum ersten Therapie auch mit angenehmen Gefühlen verbunden wird und dass
zum zweiten in der weiteren Entwicklung auch angenehme Gefühle den Zugang zu Erinnerungen an die Therapie verbessern (siehe auch Kapitel „Zustandsabhängiges Lernen“ Kapitel 1.2.3).
Die Selbstmanagement-Therapie lebt davon, die Wahlmöglichkeiten des Patienten zu vergrößern. Wenn ein Patient nach der Therapie vermehrte Möglichkeiten hat, eine Situation