Die Namenlosen. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und die Ruhe zu suchen, die sie so dringend brauchte. Ermattet an Körper und Seele, schlief sie aus schierer Erschöpfung – schlief schwer und traumlos mehrere Stunden. Zwischen drei und vier Uhr am Nachmittag wurde sie von einer Dienerin geweckt. Die Frau hatte einen Umschlag in der Hand – einen Umschlag, hinterlassen von Mr. Clare dem Jüngeren mit einer Nachricht, die verlangte, man solle das Schreiben unverzüglich Miss Garth aushändigen. Der Name, der an der unteren Ecke des Kuverts geschrieben stand, lautete „William Pendril“. Der Anwalt war eingetroffen.
Miss Garth öffnete das Kuvert. Nach einigen einleitenden Sätzen des Mitgefühls und Beileids teilte der Verfasser mit, er sei bei Mr. Clare angekommen; anschließend äußerte er, offensichtlich in seiner beruflichen Funktion, eine höchst verblüffende Bitte.
„Wenn“, so schrieb er, „im Befinden von Mrs. Vanstone irgendeine Veränderung zum Besseren eintreten sollte – ob es sich um eine Besserung für eine gewisse Zeit handelt oder um die dauerhafte Genesung, auf die wir alle hoffen –, ersuche ich Sie dringend, mich sofort darüber in Kenntnis zu setzen. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass ich mit ihr spreche, sofern sie genügend Kraft aufbringt, um mir für fünf Minuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und sofern sie in der Lage ist, nach Ablauf dieser Zeit mit ihrem Namen zu unterschreiben. Darf ich Sie bitten, mein Anliegen in strengster Vertraulichkeit an die verantwortlichen Mediziner weiterzuleiten? Diese werden verstehen, und auch Sie werden verstehen, welche entscheidende Bedeutung ich diesem Gespräch beimesse, wenn ich Ihnen sage, dass ich es eingerichtet habe, alle anderen geschäftlichen Ansprüche, die an mich gestellt wurden, ihm unterzuordnen; und dass ich mich in Bereitschaft halte, um Ihrer Aufforderung zu jeder Stunde bei Tag oder bei Nacht nachzukommen.“
Mit diesen Worten endete der Brief. Miss Garth las ihn zweimal. Beim zweiten Lesen gingen die Bitte, die der Anwalt hier an sie richtete, und die Abschiedsworte, die Mr. Clare am Tag zuvor über die Lippen gekommen waren, in ihrem Geist eine unbestimmte Verbindung ein. Neben dem ersten und vordringlichen Anliegen der Genesung von Mrs. Vanstone gab es ein zweites, ein ungewisses Interesse, das Mr. Pendril und Mr. Clare bekannt war. Wen betraf es? Die Kinder? Waren sie durch eine neue Widrigkeit bedroht, die durch die Unterschrift ihrer Mutter abgewendet werden konnte? Was bedeutete das? Bedeutete es, dass Mr. Vanstone gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen?
In ihrer Betrübnis und Verwirrung war Miss Garth nicht in der Lage, so für sich selbst zu überlegen, wie sie in glücklicheren Zeiten überlegt hätte. Hastig eilte sie in den Vorraum von Mrs. Vanstones Zimmer; und nachdem sie Mr. Pendrils Stellung zur Familie erläutert hatte, drückte sie seinen Brief den Medizinern in die Hand. Beide antworteten ohne Zögern in dem gleichen Sinn. Mrs. Vanstones Zustand machte ein Gespräch, wie der Anwalt es wünschte, zu einem Ding der völligen Unmöglichkeit. Wenn sie sich von ihrer derzeitigen Erschöpfung erholte, werde man Miss Garth sofort über die Besserung in Kenntnis setzen. Vorerst jedoch lasse sich die Antwort an Mr. Pendril in einem Wort zusammenfassen: unmöglich.
„Ihnen ist klar, welche Wichtigkeit Mr. Pendril dem Gespräch beimisst?“, sagte Miss Garth.
Ja: Beiden Ärzten war es klar.
„Mein Geist ist verirrt und verwirrt in dieser entsetzlichen Ungewissheit, meine Herren. Kann einer von Ihnen erraten, warum die Unterschrift gewünscht wird? Oder was der Gegenstand des Gesprächs sein könnte? Ich habe Mr. Pendril nur dann gesehen, wenn er früher hier zu Besuch war: Ich habe keinen Anspruch, der es rechtfertigen würde, dass ich ihn befrage. Würden Sie sich den Brief noch einmal ansehen? Glauben Sie, er bedeutet, dass Mr. Vanstone nie ein Testament gemacht hat?“
„Ich glaube kaum, dass er das bedeuten kann“, sagte einer der Ärzte. „Aber selbst wenn wir annehmen, dass Mr. Vanstone ohne letzten Willen verstorben ist, trägt das Gesetz hinreichend Sorge für die Interessen seiner Witwe und seiner Kinder…“
„Tut es das auch“, warf der andere Mediziner ein, „wenn das Eigentum in Ländereien besteht?“
„In diesem Fall bin ich nicht sicher. Wissen Sie zufällig, Miss Garth, ob Mr. Vanstones Vermögen aus Geld oder aus Land besteht?“
„Aus Geld“, erwiderte Miss Garth. „Das habe ich ihn bei mehr als einer Gelegenheit sagen hören.“
„Dann kann ich Ihre Seele erleichtern, indem ich aus eigener Erfahrung spreche. Wenn er ohne Testament stirbt, spricht das Gesetz ein Drittel seines Vermögens seiner Witwe zu, und der Rest wird gleichmäßig unter seinen Kindern geteilt.“
„Aber wenn Mrs. Vanstone…“
„Wenn Mrs. Vanstone sterben sollte“, fuhr der Arzt fort, womit er die Frage vollendete, die zum Abschluss zu bringen Miss Garth selbst nicht das Herz gehabt hatte, „glaube ich, dass ich recht habe, wenn ich Ihnen sage, dass das Vermögen im Zuge der gesetzlichen Erbfolge an die Kinder gehen würde. Welche Notwendigkeit auch für das Gespräch bestehen mag, das Mr. Pendril wünscht, ich sehe keinen Anlass, es mit der Frage nach dem mutmaßlichen Fehlen von Mr. Vanstones Testament in Verbindung zu bringen. Aber um der Zufriedenheit Ihrer eigenen Seele willen richten Sie die Frage unter allen Umständen an Mr. Pendril selbst!“
Miss Garth zog sich zurück, um so zu verfahren, wie der Arzt es ihr geraten hatte. Nachdem sie Mr. Pendril die medizinische Entscheidung übermittelt hatte, die ihm vorerst das gewünschte Gespräch versagte, fügte sie eine kurze Erklärung über die juristische Frage an, die sie den Ärzten vorgelegt hatte; dabei wies sie taktvoll auf ihr natürliches Bestreben hin, über die Motive in Kenntnis gesetzt zu werden, die den Anwalt zu seiner Anfrage veranlasst hatten. Die Antwort, die sie erhielt, war reserviert bis zum Äußersten und hinterließ bei ihr keine günstige Meinung über Mr. Pendril. Er bestätigte die Interpretation der Gesetze durch die Ärzte nur in sehr allgemeinen Begriffen und brachte seine Absicht zum Ausdruck, im Cottage zu warten in der Hoffnung, dass eine Wendung zum Besseren Mrs. Vanstone doch noch in die Lage versetzen werde, ihn zu empfangen; er schloss seinen Brief ohne die leiseste Andeutung über seine Motive und über die Existenz oder Nichtexistenz von Mr. Vanstones Testament.
Die betonte Vorsicht in der Antwort des Anwalts rumorte unbehaglich in Miss Garth’ Kopf, bis das lange erwartete Ereignis des Tages ihre sämtlichen Gedanken wieder auf die alles bestimmende Angst um Mrs. Vanstone lenkte.
Am frühen Abend traf der Arzt aus London ein. Er stand lange am Bett der leidenden Frau und beobachtete sie; noch länger blieb er in der Beratung mit seinen medizinischen Standesgenossen; wieder ging er in das Krankenzimmer, bevor Miss Garth zu ihm vordringen konnte, damit er ihr mitteilte, zu welcher Einschätzung er gelangt war.
Als er zum zweiten Mal in den Vorraum kam, nahm er schweigend auf einem Stuhl an ihrer Seite Platz. Sie sah ihm ins Gesicht, und die letzte schwache Hoffnung erstarb in ihr, bevor seine Lippen sich öffneten.
„Ich muss die harte Wahrheit aussprechen“, sagte er sanft. „Alles, was getan werden kann, ist getan worden. Die nächsten höchstens vierundzwanzig Stunden werden der Ungewissheit ein Ende machen. Wenn die Natur in dieser Zeit keine Anstrengung unternimmt – es bekümmert mich, das zu sagen – müssen Sie auf das Schlimmste vorbereitet sein.“
Diese Worte sagten alles: Sie prophezeiten das Ende.
Die Nacht verging; und sie durchlebte sie. Der nächste Tag kam; und sie bestand fort, bis die Uhr fünf zeigte. Zu dieser Stunde hatte die Nachricht vom Tod ihres Mannes ihr den tödlichen Schlag versetzt. Als die Stunde wiederum gekommen war, ließ die Gnade Gottes sie zu ihm in eine bessere Welt gehen. Ihre Töchter knieten an ihrem Bett, als ihre Seele entschwand. Sie verließ beide, ohne von ihrer Gegenwart zu wissen, barmherzig und glücklich unempfindlich gegen den Schmerz des letzten Lebewohl.
Ihr Kind überlebte, bis der Abend hereinbrach und der Sonnenuntergang sich am stillen westlichen Firmament verdüsterte. Als die Dunkelheit kam, flackerte das Licht des zerbrechlichen kleinen Lebens – das von Anfang an schwach und matt gewesen war – und verlosch. Alles, was irdisch war an Mutter und Kind, lag in dieser Nacht in demselben Bett. Der Todesengel hatte sein grausiges Werk getan; und die beiden Schwestern blieben allein auf der Welt zurück.
Kapitel 12
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