Die Namenlosen. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
den er in seinem Leben geschrieben hat. Diese Zeichen sollen ihnen sagen, dass es der einzige Gedanke im Leben ihres Vaters war, seinen Kindern gegenüber Wiedergutmachung zu üben. ‚Vielleicht denken sie verbittert an ihre Geburt‘, sagte er einmal zu mir, ‚aber sie sollen nie verbittert an mich denken. Ich werde sie mit nichts ärgern; sie sollen nie eine Sorge kennen, die ich ihnen ersparen kann, und keinen Mangel leiden, den ich befriedigen kann.‘ Er ließ mich diese Worte in sein Testament schreiben, damit sie für ihn sprachen, wenn die Wahrheit, die er zu Lebzeiten vor seinen Kindern verheimlicht hatte, ihnen nach seinem Tod offenbart wurde. Kein Gesetz kann seinen Töchtern das Vermächtnis seiner Reue und seiner Liebe nehmen. Ich lasse das Testament und den Brief hier, damit sie Ihnen helfen; ich gebe beides in Ihre Obhut.“
Er sah, wie seine Freundlichkeit sie rührte, und beschleunigte absichtlich den Abschied. Sie nahm seine Hand in ihre und murmelte einige stockende Worte der Dankbarkeit. „Vertrauen Sie darauf, dass ich mein Bestes tun werde“, sagte er, drehte sich mit barmherziger Abruptheit um und ging. Im hellen, fröhlichen Sonnenschein war er gekommen, um die verhängnisvolle Wahrheit zu offenbaren. Im hellen, fröhlichen Sonnenschein ging er – nachdem die Wahrheit offenbart war – hinaus.
Kapitel 14
Als Mr. Pendril das Haus verließ, war es fast ein Uhr mittags. Miss Garth setzte sich allein an den Tisch und bemühte sich, der Notwendigkeit ins Auge zu sehen, die ihr durch das Ereignis des Vormittags aufgezwungen wurde.
Ihr Geist war der Anstrengung nicht gewachsen. Sie versuchte, die Belastung zu verringern, das Gespür für ihre eigene Lage zu verlieren und ihren Gedanken nur für ein paar Minuten zu entfliehen. Nach kurzer Zeit faltete sie den Brief von Mr. Vanstone auseinander und machte sich mechanisch daran, ihn noch einmal durchzulesen.
Eines nach dem anderen fassten die letzten Worte des Toten mehr und mehr in ihrer Aufmerksamkeit Fuß. Die ungeminderte Einsamkeit, das ungebrochene Schweigen verfehlten ihren Einfluss auf ihren Geist nicht und öffneten ihn gerade für jene Eindrücke aus Vergangenheit und Gegenwart, die zu meiden sie am meisten erpicht war. Als sie bei den melancholischen Zeilen anlangte, mit denen der Brief schloss, ertappte sie sich dabei, wie sie – anfangs unmerklich und fast unbewusst – die verhängnisvolle Kette der Ereignisse Glied für Glied zurückverfolgte, bis sie bei ihrem Anfang angelangt war: bei der beabsichtigten Eheschließung zwischen Magdalen und Francis Clare.
Diese Heirat hatte Mr. Vanstone zu seinem alten Freund geführt, auf den Lippen das Geständnis, das ihnen ansonsten nie entschlüpft wäre. Dann kam die Erkenntnis, derentwegen er nach Hause gegangen war, um den Anwalt zu rufen. Diese Einladung wiederum hatte zu der unvermeidlichen Vorverlegung der Reise von Samstag auf Freitag geführt; den Freitag des tödlichen Unglücks, den Freitag, an dem er in den Tod ging. Die Folgen seines Todes waren: der zweite Trauerfall, der das Haus so trostlos gemacht hatte; die hilflose Lage der Töchter, deren wohlhabende Zukunft sein größtes Anliegen gewesen war; die Offenbarung des Geheimnisses, die sie heute Morgen überwältigt hatte; und die noch schrecklichere Eröffnung, die sie jetzt den verwaisten Schwestern zu überbringen verpflichtet war. Zum ersten Mal sah sie die ganze Abfolge der Ereignisse, sah sie so klar und deutlich wie das wolkenlose Blau des Himmels und das grüne Leuchten der Bäume draußen im Sonnenlicht.
Wie – und wann – konnte sie es ihnen sagen? Wer konnte sich ihnen nähern und ihnen ihre eigene illegitime Stellung offenbaren, bevor ihr Vater und ihre Mutter auch nur seit einer Woche tot waren? Wer konnte die grausigen Worte aussprechen, während die ersten Tränen feucht über ihre Wangen liefen, während der erste Schmerz der Trennung in ihren Herzen am heftigsten wütete, während die Erinnerung an die Bestattung noch keinen Tag alt war? Nicht die letzte Freundin, die ihnen geblieben war, nicht die treu ergebene Frau, deren Herz ihretwegen blutete. Nein! Vorerst Schweigen, auf jedes Risiko hin – gnädiges Schweigen noch für viele Tage!
Sie verließ das Zimmer, in der Hand den Brief und das Testament – und im Herzen das natürliche, menschliche Mitleid, das ihre Lippen versiegelte und ihre Augen eisern vor der Zukunft verschloss. In der Diele blieb sie stehen und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Leise ging sie die Treppe hinauf; auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam sie an Norahs Schlafgemach vorüber. Stimmen drangen an ihr Ohr, die Stimmen der beiden Schwestern. Nach kurzem Überlegen hielt sie sich zurück, wandte sich um und ging schnell wieder die Treppe hinunter. Norah und Magdalen wussten von dem Gespräch zwischen Mr. Pendril und ihr; sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihnen den Brief zu zeigen, durch den die Verabredung getroffen wurde. Würde es ihren Verdacht erregen, wenn sie sich in ihrem Zimmer einschloss, sobald der Anwalt das Haus verlassen hatte? Ihre Hand zitterte auf dem Treppengeländer; sie spürte, dass ihr Gesicht sie verraten könnte. Die selbstlose Tapferkeit, die sie bis zu diesem Tag nie verlassen hatte, war einmal zuviel auf die Probe gestellt worden – war über ihre Kräfte hinaus beansprucht.
An der Haustür blieb sie noch einmal kurz stehen, dann ging sie hinaus in den Garten; sie lenkte ihre Schritte zu einer grob behauenen Bank und einem Tisch, die außer Sichtweite des Hauses zwischen den Bäumen standen. Früher hatte sie oft hier gesessen, auf der einen Seite Mrs. Vanstone, auf der anderen Norah, und Magdalen war mit den Hunden auf der Wiese herumgetollt. Jetzt saß sie allein hier, das Testament und den Brief, die sie nicht aus ihrem Besitz zu geben wagte, ausgebreitet auf dem Tisch, den Kopf darüber gebeugt, das Gesicht in den Händen verborgen. Allein saß sie dort und gab sich Mühe, ihren sinkenden Mut zu stärken.
Zweifel wegen der kommenden Tage bedrängten sie; Furcht befiel sie vor der verborgenen Gefahr, die ihr Schweigen gegenüber Norah und Magdalen für die nahe Zukunft aufhäufen konnte. Der Zufall eines Augenblicks könnte plötzlich die Wahrheit offenbaren. Mr. Pendril könnte schreiben, könnte sich an die Schwestern wenden in der selbstverständlichen Überzeugung, dass sie die beiden aufgeklärt hatte. Komplikationen könnten sich um sie herum von einem Augenblick zum nächsten ergeben; unvorhergesehene Notwendigkeiten könnten sie zwingen, das Haus sofort zu verlassen. Sie sah all diese Gefahren, und doch war ihr der grausige Mut, dem Schlimmsten ins Augen zu sehen und zu sprechen, so fern wie zuvor. Wenig später drängte das Dickicht ihrer widerstreitenden Gedanken ins Freie, um sich durch Worte und Taten Erleichterung zu verschaffen. Sie hob den Kopf und schlug mit der Hand hilflos auf den Tisch.
„Gott helfe mir, was soll ich nur tun?“, brach es aus ihr heraus. „Wie soll ich es ihnen sagen?“
„Es ist nicht notwendig, es ihnen zu sagen“, sagte eine Stimme hinter ihr. „Sie wissen es schon.“
Miss Garth fuhr hoch und sah sich um. Vor ihr stand Magdalen – und Magdalen hatte gerade gesprochen.
Ja, es war die anmutige Gestalt in ihrer Trauerkleidung. Groß und schwarz und unbeweglich stand sie vor dem Hintergrund aus Blattwerk. Es war Magdalen selbst mit einer unveränderlichen Stille im Gesicht und einer eisigen Resignation in den ruhigen grauen Augen.
„Wir wissen es schon“, sagte sie in klarem, bedächtigem Ton. „Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder; und das Gesetz überlässt sie hilflos der Gnade ihres Onkels.“
Ohne eine Träne auf der Wange, ohne ein Stocken in der Stimme wiederholte sie die Worte des Anwalts, wie er sie ausgesprochen hatte. Miss Garth stolperte einen Schritt rückwärts und griff nach der Bank, um sich festzuhalten. In ihrem Kopf drehte sich alles; sie schloss die Augen in einem kurzen Schwächeanfall. Als sie wieder zu sich kam, wurde sie von Magdalens Arm gestützt; Magdalens Atem wehte über ihre Wange, Magdalens kalte Lippen küssten sie. Sie zog sich vor dem Kuss zurück; die Berührung der Lippen des Mädchens erfüllte sie mit Entsetzen.
Sobald sie wieder sprechen konnte, stellte sie die unvermeidliche Frage. „Du hast uns gehört“, sagte sie. „Wo?“
„Unter dem offenen Fenster.“
„Die ganze Zeit?“
„Von Anfang bis Ende.“
Sie hatte gelauscht. Dieses Mädchen von achtzehn Jahren hatte in der ersten Woche als Waise die ganze schreckliche Offenbarung belauscht – Wort für Wort, wie sie von den Lippen des Anwalts kam. Und sie hatte sich dabei kein einziges Mal verraten! Die einzigen Bewegungen, die sie nicht unterdrücken konnte, waren so beherrscht und geringfügig gewesen,