Julia. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.
keine Hilfe zu erwarten, er hatte sich in sich selbst verkrochen.
Frau Rosen setzte sich auf ihren Stuhl. Sie stand schnell wieder auf. Auf ihrem Stuhl fühlte sie sich noch kleiner, noch unbeweglicher.
Sie lief bis zu den vorderen Tischen und sagte: »Mir tut es leid, dass wir unter solch unglücklichen Umständen unsere erste Stunde beginnen müssen. Aber ... «
Julia war aufgestanden. Sie hielt sich an der Tischplatte fest und sagte, obwohl sie fror: »Mir ist heiß. Das Fenster muss geöffnet werden.«
Frau Rosen sah Julia an, die an ihr vorbei blickte. Sie wusste, das war ein erster Angriff gegen sie, ein erstes Kräftemessen. Sie hatte sich ihren Beginn in der 8b ganz anders vorgestellt, hatte mehr Freundlichkeit und Entgegenkommen erwartet. Wie hatte der Direktor gesagt: »Sie bekommen die disziplinierteste und leistungsstärkste Klasse der Schule, Kollegin Rosen. Es hat nicht jeder von uns so einen guten Start gehabt.«
Guter Start?, dachte sie bitter. Was dir hier entgegenschlägt, ist Abweisung und Kälte. Aber sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Sie hatte sich doch wie ein Kind auf diese achte Klasse gefreut. Das waren doch schon erwachsene Menschen, mit denen sie gemeinsam arbeiten wollte.
Frau Rosen sagte: »Es ist kühl. Das Fenster bleibt geschlossen. Es kann in der Pause geöffnet werden.«
Es war härter herausgekommen, als sie es gewollt hatte.
Vor Julias Augen begann das Klassenzimmer, die Gesichter von Pit, Liebscher und Frau Rosen ineinander zu verschwimmen.
Wie Blitzlichter tauchten auch Mutters, Vaters und Frau Saubes Gesichter auf.
Dann sah sie nur noch das Gesicht der neuen Lehrerin. Es lachte hämisch und sagte immer wieder: Das Fenster bleibt zu! Das Fenster bleibt zu!
Julia fühlte jetzt eine Schwäche die Beine heraufkriechen, gegen die sie keinen Widerstand leistete. Sie wollte, dass irgendetwas mit ihr passierte. In ihrem Kopf stach es dumpf. Um sie herum begann sich alles zu drehen. Ihr knickten die Beine weg.
Sie wäre auf den Boden gestürzt, wenn Pit sie nicht aufgefangen hätte. Das letzte, was sie sah, war das erschrockene Gesicht der Lehrerin.
9.
Es war später Sonnabendmorgen. Julia lag noch im Bett. Sie war eben erst munter geworden.
Sie hörte den Wind an den Häusermauern pfeifen. Im Bett war es kuschlig warm. Jemand im Haus spielte Akkordeon. Julia hörte in die mal aufbrausend wilden, dann wieder melancholischen Klänge. Bestimmt war Herrmanns Sohn Jürgen zum Wochenendurlaub nach Hause gekommen. Nun würde er bis zum Mittagessen auf seinem Akkordeon spielen.
Langsam kehrte Julia der gestrige Tag ins Bewusstsein zurück. Sie erinnerte sich, dass sie im Klassenzimmer plötzlich ohnmächtig geworden war. Pit und Ellen hatten sie nach Hause gebracht. Dann war ein Arzt gekommen. Er hatte sie abgehorcht und Blutdruck gemessen. Sie musste eine Tablette schlucken. Als er wieder gehen wollte, hatte sie ihn gefragt, wer ihn denn geschickt hätte.
»Schlaf jetzt«, hatte der Arzt gesagt. »Geschickt hat mich deine Lehrerin. Die war ja völlig durcheinander am Telefon.«
Dann war Vater von der Frühschicht gekommen. Er war hilflos. Immer wieder fragte er: »Hast du Schmerzen? Brauchst du etwas?«
Julia hatte aufgeatmet, als die Mutter nach Hause kam, ihr alles erzählt, in ihren Armen geweint und war eingeschlafen.
Julia fand auf einem Stuhl neben ihrem Bett etwas zu essen und zu trinken. Daneben lag ein Zettel. »Liebe Julia! Ich komme ganz, ganz schnell nach der Arbeit nach Hause. Papa wird in der Pause nach Dir sehen. Wir haben gestern Abend den Arzt angerufen. Er sagte, wir brauchten uns um Dich keine Sorgen zu machen. Du wärst nur überanstrengt. Viel Vitamine sollst Du essen und viel an die frische Luft gehen. Wenn nichts dazwischenkommt, sagt er, kannst Du Montag wieder in die Schule gehen. Bis dann, tschüs, Deine Mutsch.«
Julia drückte ihren Plüschbären Romeo fest an sich. Sie dachte an den vergangenen Tag, an die neue Lehrerin Rosen und an Herrn Rohnke. Jemand ging weg, und plötzlich war alles verändert, die Welt bekam ein anderes Gesicht.
Sie wurde traurig, die Unruhe kehrte in sie zurück. Sie wünschte sich, auch ein Instrument spielen zu können. Wenn Jürgen Herrmann spielte, dann klang es so, als könnte er mit seiner Musik alle seine Sorgen aus sich herausströmen lassen. Sie hörte es seinem Spiel an, ob er guter oder schlechter Laune war.
Julia war noch sehr erschöpft. Sie schlief ein. Als sie wieder erwachte, wurde immer noch Akkordeon gespielt. Vater war dagewesen. Ein Strauß Astern und eine Tafel Nussschokolade lagen auf dem Stuhl.
Sie fühlte sich jetzt besser. Sie zog die Übergardine zurück. Der Wind hatte die Wolken vom Himmel gefegt. Die Sonne ließ gleißende Strahlen über die Dächer gleiten. Auf der Straße polterten die Müllautos. Ein Junge versuchte seinen Drachen steigen zu lassen. Der Ruß der Brauereischornsteine trieb in Richtung Schule.
Es klingelte an der Wohnungstür. Julia sprang ins Bett zurück. Wer konnte das sein? Sie rief laut: »Herein! Die Tür ist offen!«
Die Tür wurde zaghaft geöffnet. Julia riet: Ellen? Pit? Liebscher? Ellen und Pit schieden aus. Sie kamen anders. Sie waren schon öfter zu Besuch gewesen. Liebscher?
Es klopfte an Julias angelehnte Zimmertür. »Ja«, sagte Julia gespannt.
»Die Neue ...!«, rief Julia überrascht.
»Guten Tag, Julia!« Frau Rosen lächelte. »Ja, die Neue«, sagte sie. »Wie geht es dir denn, Julia?«
»Danke«, sagte Julia. »Es geht so.«
Beide schwiegen. Julia wusste nicht, was sie sagen sollte.
Frau Rosen hätte sich gern gesetzt. Ihr war es nicht leichtgefallen, hierher zu kommen. Sie hatte gewusst, wie sie empfangen werden würde. Am meisten hatte sie sich vor dieser abweisenden Kälte gefürchtet, die sie auch heute wieder in der Klasse zu spüren bekommen hatte. Aber die Sorge um dieses Mädchen, das in ihrer ersten Unterrichtsstunde ohnmächtig wurde, hatte sie hergetrieben.
Sie fragte: »Habe ich gestern etwas falsch gemacht? Habe ich dir wehgetan mit irgendetwas?«
Julia schwieg. Jürgen Herrmann spielte jetzt schnell die Tonleiter herauf und herunter. Die Töne überschlugen sich.
Was für Fragen sie stellt, dachte Julia. Misstrauisch fragte sie: »Warum kommen Sie überhaupt?«
»Darf ich mich setzen?« Frau Rosen zeigte auf Julias Bett.
Julia nahm das Essen, die Blumen und die Schokolade vom Stuhl.
Frau Rosen setzte sich. Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick blieb auf einem Bild über Julias Bett. Es war eine Reproduktion von Josef Hegenbarth: In der Manege. Ein Clown war darauf zu sehen, ein steigendes Pferd und über der Manege eine Frau am Trapez.
»Liebst du den Zirkus?«, fragte sie. »Wir könnten mit der Klasse hingehen. Es ist jetzt einer in der Stadt. Würdest du wollen?«
»Ich gehe heute mit meinen Eltern in den Zirkus«, antwortete Julia. Und dann wiederholte sie ihre Frage: »Warum sind Sie gekommen?«
Frau Rosen drückte den Verschluss ihrer Tasche auf und zu, immer wieder. Sie lächelte, als sie den Plüschbären unter der Bettdecke hervorlugen sah. »Ich wollte nur mal nach dir sehen«, sagte sie. »Brauchst du etwas? Hast du einen Wunsch?«
Julia schüttelte den Kopf. Beide schwiegen wieder. Dann stand die Lehrerin auf. Sie gab Julia die Hand und sagte: »Also auf Wiedersehen. Und gute Besserung!«
»Danke.«
Julia fiel auf, dass Frau Rosen wie Herr Rohnke manchmal ein »Also« ihren Worten voranstellte. Aber dieses »Also« passte nicht zu ihr. Es gehörte zu Herrn Rohnke.
Frau Rosen ging bis zur Wohnungstür. Dort kehrte sie um und betrat noch einmal das Zimmer.
Sie