Nesthäkchens Jüngste. Else UryЧитать онлайн книгу.
Händen öffnete Direktor Hildebrandt die Tür.
»Herr Müller« – ein Herr erhob sich von einem Pult, rückte die Brille zurecht und dienerte – »ich stelle Ihnen hier unseren jüngsten Banklehrling, Fräulein Ursula Hartenstein, vor. Ein unbeschriebenes Blatt ohne jede Vorkenntnisse. Ihren bewährten Händen vertraue ich sie an – Sie werden sicher eine tüchtige Bankbeamtin aus der jungen Dame machen.«
Die junge Dame schüttelte sich innerlich bei dem Wort »Bankbeamtin«, während Herr Müller dem neuen Banklehrling die Hand reichte und versprach, sein möglichstes zu tun.
»Hoffe, Gutes von Ihnen zu hören, Morjen!« Der Bankdirektor verabschiedete sich. Herr Müller übernahm die Vorstellung der übrigen Damen und Herren, wohl zwanzig an der Zahl. Manch bewundernder Blick streifte die reizende neue Kollegin. Das war für die junge Evastochter immerhin eine kleine Aufmunterung. Während sie ihre Sachen ablegte, machte Herr Müller einen Tisch neben sich frei. »So, Fräulein Hartenstein, hier ist Ihr Reich, wenn ich bitten darf. Alle notwendigen Schreibutensilien finden Sie in den Kästen vor. Sie können erst mal Adressen ausschreiben und die Briefe hier kuvertieren, wenn ich bitten darf. Die Namen stehen auf diesen bereits fertigen Formularen. Adressen finden Sie in dem Register, nach Buchstaben geordnet. Lassen Sie die Umschläge offen, wenn ich bitten darf, daß sie noch einmal nachgeprüft werden können.«
Da saß er nun, der jüngste Banklehrling, blickte von dem Stoß Briefumschlägen vor sich auf all die gesenkten Köpfe und emsig schreibenden Finger ringsum und seufzte zentnerschwer.
O Gott – Stunden, Tage, Monate, Jahre, vielleicht ihr ganzes Leben sollte sie hier unter all den rechnenden und schreibenden Menschen zubringen? Schließlich auch solch eine lebendige Arbeitsmaschine werden wie die da alle – nein – nein – das hielt sie nicht aus.
War es nicht das Richtigste, sie fing gar nicht erst an, sondern ging gleich wieder davon? Es war ja nur unnütze Zeitverschwendung, führte ja doch zu nichts. Aber hatte sie nicht ihrer kleinen Muzi zu Hause versprochen, des Vaters Wünsche nach bestem Willen zu erfüllen? Na also – los!
Ursel zückte die Feder und tauchte sie in das Tintenfass: »Herrn Oskar Futter«, begann sie auf den Briefumschlag mit ihrer genial ungleichmäßigen Schrift hinzuwerfen. Wo wohnte er denn nun bloß, dieser Herr Oskar Futter, der sie in der ganzen Welt doch wirklich nichts anging? Er kümmerte sich auch nicht darum, wo sie wohnte. Rankestraße 9 – hm, elegante Gegend. Wer kam nun dran? Frau Emilie Binder – Herrgott, war das zum Auswachsen mopsig. Adresse um Adresse, Brief um Brief. Endlos. Stille ringsum – nur Federgekritzel, gedämpftes Schreibmaschinengerassel aus dem Nebenraum. Und draußen goldener Maisonnenschein, blühende Sträucher, Vogelsang – war sie nicht wirklich hier hinter Mauern eingesperrt, lebendig begraben? Wie hielten es die andern Damen und Herren nur aus? Waren sie schon so abgestumpft, daß sie das Trostlose ihrer maschinellen Tätigkeit gar nicht mehr fühlten? Sahen doch eigentlich ganz nett aus, besonders die jungen Mädel. Hübsch und schick angezogen, Ursel hatte das mit einem Blick heraus. Und der Herr da vor ihr – wo hatte sie den bloß schon gesehen? Er hatte einen Leberfleck an der Schläfe. Ursel wußte genau, daß sie besagten Leberfleck in ärgerlicher Gemütsstimmung schon mal betrachtet hatte. Richtig – in der Bahn heute morgen, als sie wegen Cäsar mit dem griesgrämigen Herrn den Wortwechsel gehabt hatte. Also der war Zeuge ihrer dreisten Antwort gewesen. Hoffentlich hatte er sie nicht wiedererkannt. Immer neue Namen – gleichmäßig wie Wellen überschwemmten sie Ursels Denkvermögen, ebenso einschläfernd wirkend wie diese. »Hu–ah–hu–u–uh – – –« durch die Stille klang es in herzbrechendem Gähnen.
»Nanu?« Herr Müller schob die Brille zurecht. Lachende Gesichter wandten sich dem Pult zu, wo der goldhaarige Lehrling den Mund so weit aufriß, wie es nur anging.
»Hu–ah–« es war ein reiner Krampf, der Ursel befallen. Obgleich sie sich Mühe gab, das ungehörige Gähnen zu unterdrücken, es ließ sich nicht bekämpfen. In allen Tonarten stieß sie ihr »Hu–ah–uh–« aus. Die Heiterkeit war nicht länger zu bändigen. Alles lachte. Die würdigen alten Beamten sowohl mit den zerknitterten Pergamentgesichtern, wie die jungen.
Auch Ursel lachte mit, sobald ihr der Gähnkrampf die Möglichkeit dazu ließ. Glockenhell klang es durch den Raum, der plötzlich gar nicht mehr so ernsthaft ausschaute.
»Fräulein Hartenstein ist die einförmige Bürotätigkeit noch nicht gewöhnt; vielleicht treten Sie mal einen Augenblick ans offne Fenster«, riet einer der jüngeren Herren.
»Ja, ans offne Fenster!« Ursel hatte ein Gefühl, als ob sie wie ein gefangener Vogel davonfliegen könnte.
»Essen Sie etwas, Fräulein Hartenstein«, empfahl eine Brünette mit klassischem Profil.
Ursel tat, was man ihr so freundlich geraten. Sie trat an das geöffnete Fenster und nahm einige Bissen ihres Frühstücksbrotes. In einen kahlen Hof blickte sie, kein Baum, kein Strauch darin. Kaum ein schmaler Sonnenstreif wagte es, einzudringen, als sei der Frühling ein für allemal hier ausgesperrt. Puh – gräßlich!
Der Gähnkrampf ließ nach, aber Ursels Stimmung hob sich nicht. Mit unfrohen Augen begab sie sich wieder an ihre Schreibereien. Wahre Zuchthausarbeit – sie hatte die größte Lust, die schönen, sauberen Umschläge, die auf sie warteten, alle zu zerknittern.
»Akkurater, Fräulein Hartenstein, wenn ich bitten darf«, ließ sich da neben ihr Herr Müller vernehmen, der den neuen Lehrling, trotzdem er unausgesetzt schrieb, im Auge behielt. »Die Adressen müssen eine gleichmäßige, gut leserliche Schrift aufweisen, wenn ich bitten darf.« Ungeachtet seiner Höflichkeit fühlte Ursel den Tadel des Vorgesetzten heraus.
»Besser kann ich nicht schreiben«, kam es ziemlich patzig von den Lippen des blonden Lehrlings zurück. Das wäre ja noch schöner, wenn sie hier noch wie ein Schulkind Schönschrift lernen sollte. Da mochte man sie doch lieber gleich als unbrauchbar wieder heimschicken, dann war ihnen allen beiden geholfen. Ursel machte einen so temperamentvollen Grundstrich, daß die Feder ausspritzte und mehrere Kuverts verdarb. Sie schielte ein wenig schuldbewußt zu Herrn Müller hin. Aber der schrieb ... schrieb und rechnete, er nahm scheinbar gar keine Notiz von ihr.
Nur langsam verringerte sich der Stoß Briefumschläge. Ursel strengte sich nicht sonderlich an, hatte auch wichtigeres zu tun, ihre Kollegen und Kolleginnen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und dazwischen Stoßseufzer in die Luft zu senden.
Elf Uhr – Frühstückspause. Überall erschienen knisternde weiße Päckchen auf der Bildfläche. Man verließ seinen Platz und unterhielt sich ungezwungen. Überall sah man kauende, schwatzende und lachende Gruppen. Ursel kam sich als Neuling recht verlassen vor. Sie war es gewöhnt, sonst stets den Mittelpunkt zu bilden. Sie fühlte sich vernachlässigt, zurückgesetzt, nicht genügend gewürdigt, und ihre Empfindungen für das Bankwesen wurden dadurch keineswegs freundlicher.
Da gesellte sich der Herr mit dem Leberfleck zu ihr.
»Ich irre mich wohl nicht,« sagte er lächelnd, »wir sind uns heute morgen schon im Zuge begegnet, nicht wahr?«
Ursel bejahte lebhaft. Es war ihr jetzt ganz gleich, daß sie sich dort nicht gerade von ihrer besten Seite gezeigt hatte. Sie war froh, daß sich jemand um sie kümmerte.
»Wo haben Sie denn Ihren vierfüßigen Freund gelassen? Soll der auch Banklehrling werden?«
»An einem von uns ist es schon mehr als zu viel«, gab Ursel schlagfertig zurück. »Obwohl ich glaube, daß er sich immerhin noch besser dazu eignet, als ich.«
»Nun – nun«, meinte der Leberfleckherr. »An einem Tage ist Rom auch nicht erbaut worden. Sie sehen aus, als ob Sie eine ganz tüchtige Kraft werden können.«
»Das ist durchaus kein Kompliment für mich – ganz im Gegenteil«, protestierte Ursel.
»So ungern sind Sie hier eingetreten?« verwunderte sich die brünette junge Dame, sich zu den beiden gesellend. »Ich kann mir kaum eine interessantere kaufmännische Tätigkeit denken, als gerade das Bankfach, nicht wahr, Herr Rumpler?«
Herr Rumpler mit dem Leberfleck bejahte eifrig. Ursel sah die beiden an, als