Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg. Horst LedererЧитать онлайн книгу.
eingebracht war, besuchte uns unser alter Bekannter, Bürgermeister Holst aus Tarnewitzerhagen, der uns drei Familien vorschlug, einmal darüber nachzudenken, ob wir nicht auch hier in der Umgebung siedeln wollten: „Gerade weil Sie alle aus der Landwirtschaft kommen und wissen, wie eine Bauernwirtschaft geführt werden muss, ist das für Sie eine reelle Chance, sich eine neue Existenz zu schaffen und hier im Mecklenburgischen Fuß zu fassen. Ich weiß natürlich“, und damit wandte er sich an Tante Else und meine Mutter, „dass ein solches Vorhaben für Sie als Frauen, solange sich Ihre Männer noch in der Kriegsgefangenschaft befinden, eine ganz harte Prüfung werden und Ihnen alles abverlangen wird. Aber denken Sie an Ihre Kinder! Arbeit könnten Sie sonst nur als ungelernte Landarbeiterinnen bekommen.“ Else Lederer bemerkte: „Nein, Scharwerkerinnen (westpreußisch: = Gelegenheitsarbeiterinnen, die zur harter Arbeit herangezogen werden) wollen wir auf keinen Fall werden. Aber wo könnten wir denn Ihrer Meinung nach eine Siedlung übernehmen?“ – „Einige Güter sind schon fast völlig aufgesiedelt, z. B. Grundshagen, Hofzumfelde oder Damshagen. Aber in Rolofshagen, Wichmannsdorf, Goldbeck und Arpshagen sind nach meiner Kenntnis noch Siedlungen frei. Dort gibt es auch sehr guten Boden.“ Rolofshagen zogen die beiden Frauen wegen seiner ungünstigen Lage nicht in Betracht, Wichmannsdorf kam wegen fehlenden Wohnraums und der Entfernung zu Klütz, wohin die Kinder seinerzeit zur Schule gehen müssten, trotz der verlockenden Nähe zum Strand auch nicht in Frage. Als Else und Irmgard Lederer per Fahrrad nach Goldbeck und Arpshagen unterwegs waren, entschieden sie sich sofort für Arpshagen. Dort sahen sie sich im dortigen Gutshaus um, wo die Verlosung der einzelnen Flächen vorgesehen war. Ein Glücksfall war für sie die Begegnung mit Tierarzt Preuß, der im Obergeschoss mehrere Räume bewohnte, aber im Begriff war, in eine Wohnung am Markt in Klütz umzuziehen. Er versprach den beiden Frauen, seine Räume für sie zu blockieren und einiges Mobiliar darin zurückzulassen. Er bat sie aber um Geduld, weil er zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestimmen könnte, wann konkret sein Umzug nach Klütz erfolgen würde. Er würde sie rechtzeitig informieren.
Inzwischen hatte nicht nur die Versiedlung der einzelnen Parzellen in Arpshagen im September längst stattgefunden, ebenso die Feier anlässlich der Bodenreform und das Erntefest auf der geräumigen Tenne des Speichers, wir aber hielten uns immer noch in Oberklütz auf.
Dort war in der Nacht zum 24. Oktober 1945 der Bauer Johann Wieschendorf, der sich vor dem Eindringen marodierender Russen in sein Haus mit einem Knotenstock wehrte, von den Besatzungssoldaten erschossen worden.
Da erreichte uns endlich die Nachricht von Dr. Preuß, am letzten Oktoberwochenende würde er die von ihm bewohnten Räume im Gutshaus frei machen. Damit war nun gesichert, dass das immer wieder ins Gespräch gebrachte Gutsdorf Arpshagen unser nächster Wohnsitz werden würde.
Ein weiteres Mal wurde ich bei der Nennung des Ortsnamens Arpshagen hellhörig: Am 1. Oktober 1945 begann an der Grundschule Klütz nach Kriegsende wieder der Unterricht. Ein Strom von etwa 900 Mädchen und Jungen ergoss sich auf den kleinen Schulhof, der gar nicht alle fasste, sodass sich etliche auf dem Bürgersteig vor der Schule aufhielten. Auf einen derartigen Ansturm war das Schulgebäude gar nicht eingerichtet. Obwohl ich in Schlagenthin bereits den Großteil des zweiten Schuljahrs absolviert hatte, musste ich wieder ganz von vom anfangen. Aber das ging fast allen Flüchtlingskindern so. In dieser zweiten Klasse wechselte ständig der Klassenleiter: Ich begann mit Fräulein Karstädt, es folgte Herr Schünemann, weiter ging es mit Frau Jess, und meine letzte Klassenleiterin war Frau Scheffler, die mir anstelle eines richtigen Zeugnisses auf einem gelben Zettel bestätigte, ich sei „nach Klasse 3 versetzt“ worden.
Was von den Lehrern an der Klützer Schule nie richtig bewältigt wurde, war die ständige Fluktuation der Schüler meiner reinen Jungenklasse. Zu Beginn jeder 1. Stunde kontrollierte Lehrer Schünemann die Anwesenheit, ließ jeden von uns seinen Namen, Geburtstag und Wohnort nennen. Und so erfuhr ich, dass hinter mir mit Günter Goerl, Paul Schulz, Herbert Uecker und Gerhard Reinke, den alle „Schäpper“ nannten, vier weitere Arpshagener saßen. Das war gut zu wissen.
Ereignisse in Arpshagen im Frühjahr 1945
Das Kriegsende im Mai 1945 war für die einheimischen Bewohner des Gutsdorfs Arpshagen ein Ereignis, das ihr Leben unvermittelt völlig veränderte.
Am 3. Mai 1945 besetzten amerikanische Truppen den Klützer Winkel. Sie wurden am 23. Mai hier von Soldaten der britischen Armee abgelöst.
Der Pächter Ludwig Boeck ließ mit Genehmigung der Besatzungsmächte die landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf dem Gut von den hier verbliebenen Landarbeitern in bewährter Weise fortsetzen. Er versuchte auch, die Ordnung im Dorf aufrechtzuerhalten und kriminelles Verhalten seiner Bewohner zu unterbinden, indem er dank seiner Autorität gelegentlich ein Machtwort sprach. Das wurde aber dadurch zunehmend schwierig, als in Arpshagen etliche Flüchtlingstrecks aus Hinterpommern, Westpreußen, Schlesien, dem Wartegau und Ostpreußen eintrafen, hier ihre Flucht vor der Roten Armee beendeten und auf einigermaßen menschenwürdige Unterbringung hofften.
Aus Hinterpommern waren gekommen:
die Familien Ziesler, Bansen, Popko, Schulz, Reinke (alle aus Butow, Kreis Saatzig),
die Familien Kirschstein, Kapanusch, Pardun, Wollmann, Scheil (alle aus Seefelde, Kreis Flatow),
die Familie Goerl (aus Neu Zapplin, Kreis Greifenberg),
die Familien Müller, Büch, Sauter (über Oberklütz aus Döberitzfelde, Kreis Deutsch Krone).
Aus Westpreußen kamen:
die Familie Zilch (aus Polichno Hauland, Kreis Wirsitz),
die Familie Braun (Rücksiedler aus Wolhynien),
die Familie Schmidt, Nittel).
Aus Ostpreußen waren
das Ehepaar Raudszus,
die Familie Schreiber,
die Alleinstehende Ida Witt,
die Familie Dreyer (aus Königsberg).
Aus Schlesien kamen:
Familie Pescha (aus Konstadt, Kreis Kreuzburg),
Familie Grzyb (aus Meseritz, Grenzmark).
Aus der Provinz Posen waren
die Familien Schmidt / Wojahn / Sager (aus Karlsruhe, Rogasen).
Die Geschwister Kosbab waren unbekannter Herkunft.
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Ein weiteres Ereignis brachte Aufregung und Unruhe in den Alltag der Arpshagener. In den letzten Apriltagen 1945 war ein Güterzug aus Richtung Grevesmühlen mit Gütern zur Versorgung der Besatzung des Flugplatzes Tarnewitz etwa 30 bis 40 Meter vor dem Bahnübergang Arpshagen / Bothmer in Richtung Kauhkoppelbusch zum Stehen gekommen. Die Lokomotive war sicher nach Grevesmühlen zurückgefahren worden, weil der Zug auf dem Klützer Bahnhof keine Einfahrt erhalten hatte.
Die damalige Arpshagenerin Käte Göwe berichtete: „Es ging in Arpshagen und Klütz herum wie ein Lauffeuer: „Da ist ein Zug auf der Strecke! Da ist allerhand zu holen!“ Da haben wir erst Angst gehabt, aber dann bin ich auch mitgelaufen. Und dann haben sie Waggons aufgemacht. Da waren Sachen drin, in einem nur Pappeimer mit Marmelade. Einer stand im Waggon und hat immer herausgereicht, und dann hab’ ich zum Glück auch einen Marmeladeneimer erhascht...“ In einem Waggon befanden sich Teppiche, in einem weiteren Kleidung für Flugzeugpiloten, u. a. Lederkappen, pelzgefütterte Pilotenstiefel, Lederhandschuhe, Hosen, kurze wattierte Lederjacken, dunkelblaue Wollpullover (Troyer)…
Offensichtlich war nicht nur Käte Göwe, verheiratete Moll, an diesem Beutezug beteiligt. Mitte der Vierzigerjahre habe ich mindestens zwei Angehörige der Familie Frederich in Pilotenkleidung bei der Feldarbeit beobachtet, und noch 1948 bot Frau Andersson meiner Mutter mehrere dieser dunkelblauen Troyer an, die uns Kindern damals aber viel zu groß waren und deshalb von meiner Mutter dankend abgelehnt wurden.
Im Zusammenhang mit dem Abzug der britischen Besatzungssoldaten verließ am 30. Juni 1945 auch der Pächter Ludwig Boeck mit seiner Familie und einigen Angestellten