Weihnacht von Karl May. Karl MayЧитать онлайн книгу.
einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich
darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun
gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«
»Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«
»Was?«
»Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«
»Verdienter Weise?«
»Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick,
mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen
Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen.
Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende
Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«
»Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte
doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«
Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann
wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:
»Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht
zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken
noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst
recht noch nicht fort!«
»Aber Ihre Frau – –?« fragte ich.
»Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil
ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und
meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie
mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da
schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich
früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«
»Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«
»Nein.«
»So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«
»So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«
»Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«
»Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden
möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! – – Halt, halt, ich hab's, ich hab's! Sind
Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«
»Nein.«
»Ich steck' nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus,
wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag
ich Ihnen, Herr – – – Sa – – Saff – – – Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen
gar nicht merken. Karb – – Karb – – und Saff – – Saff – –!«
Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm
unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen,
und sagte:
»Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit
vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«
Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere
Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern
Westentasche, dann in allen Rock- und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal
verschwunden.
»Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu
gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«
»Sollte etwa wieder deine Schwester – –?« erkundigte ich mich zart andeutungsvoll.
»Die?« antwortete er, ohne meine arglistige Verworfenheit zu ahnen. »Diesesmal ist sie
unschuldig, wirklich unschuldig, denn ich habe den Paß ja im Stiefel gehabt. Alle Wetter,
sollte ich ihn etwa wieder hineingesteckt haben? Das wäre ja eine Zerstreutheit, und die
kommt bei mir niemals vor. Der Schuster hat die Nagelspitze ja doch abgezwickt! Aber besser
ist besser; ich werde nachsehen. Welcher Stiefel war es denn? Weißt du es, Sappho?«
»Nein,« antwortete ich, den ewigen Gesetzen der Wahrheit leider ganz zuwider.
»So muß ich in alle beide Stiefel gucken; dann ist der richtige auf alle Fälle dabei.«
Er zog sie einen nach dem andern aus; der Paß war nicht da. Er zog der Sicherheit wegen
dann auch die Strümpfe aus, überzeugte sich aber, daß auch sie ihm keinen Unterschlupf
geboten hatten. Nun war guter Rat teuer. Wir suchten schließlich unter dem Tische, an
welchem wir vorhin gesessen hatten, und da sah ich die weggeworfenen Reste der Fidibus,
mit denen er sich seine Cigarren so oft in Brand gesteckt hatte. Ich wickelte sie auf, und
richtig – – –!
»Hier, lieber Carpio, schau her!«
Als er die Rudera seiner polizeilichen Existenzberechtigung in Augenschein genommen hatte,
wurde sein Gesicht länger und immer länger.
»Hier ist ein Viertel vom Direktorialstempel!« rief er aus. »Das stammt von meinem Passe!
Wer hat die Fidibus gemacht?«
»Du selbst.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich kann beschwören, daß deine Schwester nicht hier gewesen ist.«
»Das kann ich auch. Aber mir ist ganz so, als ob du mir die Fidibus gegeben hättest!«
»Fällt mir nicht ein! Ich bin keine Schwester – eine Behauptung, welcher du wohl zustimmen
wirst.«
»So bleibt freilich nichts anderes anzunehmen, als daß ich es selbst gewesen bin, der in meine
Westentasche gegriffen hat. Unbegreiflich! Eine solche Gedankenlosigkeit ist mir in meinem
ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Nun ist der Paß futsch, vollständig futsch! Wenn es
nun der Polizei einmal einfällt, mich mit einem gesuchten Raubmörder oder durchgegangenen
Bankdirektor zu verwechseln, so kann ich mich nur ruhig einsperren lassen, bis mich mein
lieber Vater wieder holt!«
»Mach dir darüber keine Sorge! So lange ich bei dir bin, reicht mein Paß für uns beide aus,
denn erstens habe ich keine Schwester, welche alle Dummheiten begeht, zweitens geht bei
mir kein Nagel durch die Stiefelsohle, und drittens habe ich es auch