Weihnacht von Karl May. Karl MayЧитать онлайн книгу.
mit vielen Unterlassungsfehlern, weiter nichts!«
»Richtig, sehr richtig! Das Wort Unterlassungsfehler ist gut gewählt und bezeichnet genau
das, was ich sagen will. Da Sie die Musik nicht als Fachstudium treiben wollen, werden Sie
zwar soviel komponieren lernen, wie man, um mich eines Volksausdruckes zu bedienen, für
Haus und Küche braucht, mehr nicht; das genügt aber auch für Sie. Aber auch nur so weit
sind Sie jetzt noch lange nicht. Sie haben zwar mit dieser Motette aus Zufall einen Treffer
gemacht, aber ob Sie jemals wieder einen solchen machen werden, das läßt sich jetzt nicht
sagen, denn Sie haben noch viel, sehr viel zu üben und zu lernen. Ich meine, daß Ihnen ernste,
fromme Themata am besten glücken werden; das liegt überhaupt auch so in Ihrem ganzen
Wesen. Direkte Fehler, sogenannte Begehungssünden, kommen in Ihrer Motette nicht vor; sie
ist da sauber geschrieben. Aber die Übung fehlt, die Gewandtheit, die Inspiration. Denken Sie
sich einen guten Sonntagsreiter und dann einen Schulreiter im Cirkus! Der Sonntagsreiter in
der Komposition sind Sie; es fehlt Ihnen die hohe Schule; Sie kennen Ihr Pferd nicht und auch
nicht die verschiedenen Hilfen, die Sie ihm geben müssen. So etwas will nicht nur angeboren,
sondern auch gepflegt und geübt sein. Ein geübter Reiter der hohen Schule würde Ihre
Motette ganz anders ein- und zugeritten haben. Verstehen Sie mich?«
»Ja, Herr Kantor. Ich sitze zu steif im Sattel und habe zwar körperliche aber nicht auch
geistige Fühlung mit dem Pferde.«
»So ist es; ja, so ist es ganz genau! Darum habe ich, wie Sie später wohl merken werden,
einigen Ihrer steifen Figuren mehr Gewandtheit verliehen. Sie werden mir das, wenn Sie die
Motette erst singen hören, nicht übelnehmen, zumal ich Ihnen von Ihren fünfundzwanzig
Thalern nicht einen einzigen dafür in Abzug bringe.«
Der liebe, alte Herr sagte das mit seinem hübschen, herzgewinnenden Lächeln; dann fügte er
hinzu, indem er mir die Hand zum Abschiede reichte:
»Ich würde Ihnen, dem armen Teufel, den Unterricht gern umsonst erteilen, aber Sie wissen
ja, daß ich das bei meinen Gehaltsverhältnissen nicht kann. Sie werden das überstehen und
vielleicht einst wohlhabender werden, als ich bin. Denken Sie dann an Ihren alten Kantor, der
Ihrer ersten Motette auf die Beine geholfen hat. Nehmen Sie das Leben auch fernerhin so
ernst wie jetzt, und nun für heut, leben Sie wohl!«
Dieser brave Kantor, der mir stets mit gleichem Wohlwollen entgegenkam, gehört zu
denjenigen Personen, denen ich noch jetzt, nach langen Jahren, eine unverminderte
Dankbarkeit widme. Man wird später erkennen, warum ich diese freundliche Scene von ihm
erzählt und dabei keinen Namen genannt habe. Er war ein Ehren- und humaner Mann,
verlegte aber seine Welt nur in das kleine Notenzimmer, weil er auf Familienglück hatte
verzichten müssen. Man kannte seine Frau als arge Xantippe, die, wie man sich erzählte, den
einzigen Sohn, den sie besaßen, durch ihre Härte nach Amerika getrieben hatte. –
Ich war also im Besitze von fünfundfünfzig Thalern; damals welch ein großartiger Reichtum
für mich! Es war mir zu viel; ich war ja gesund und konnte arbeiten. Dreißig schickte ich
meinen armen Eltern; zwanzig legte ich für unvorhergesehene Bedürfnisse zurück, und fünf
bestimmte ich zu einer Weihnachtsreise, auf welcher ich mich ausnahmsweise einmal recht
splendid behandeln wollte. Fünf harte Thaler zu einer Reise von höchstens einer Woche, die
konnten ja gar nicht alle werden! Noch mehr als zwanzig Groschen pro Tag, das mußte ja das
reine Schlaraffenleben werden! Ich munkelte sogar ganz heimlich schon davon, natürlich zu
mir selbst, daß ich mir unter Umständen eine halbe Flasche Wein, natürlich so billig und aber
auch so gut wie möglich, gestatten werde. Welche Sorte ich wohl wählen und wie hoch im
Preis ich gehen dürfe, das beschäftigte mich sehr lebhaft täglich in der halben Viertelstunde,
welche dem Einschlafen voranzugehen pflegte! Du glückliche Zeit, wie lange bist du vorüber
und niemals, niemals zurückgekehrt!
Der Kantor machte sein Versprechen wahr; die Motette wurde eingeübt und Krüger mußte das
dreistimmige Solo mitsingen, wofür er mich mit einem Haß bedachte, der mir manchen Ärger
bereitete.
Dann erschien mein Weihnachtsgedicht; jeder Mitschüler wollte es haben; die betreffende
Nummer des Blattes wurde infolgedessen in vielen Exemplaren von unserer Buchhandlung
bezogen, und als nachher das allmonatliche Freideklamieren stattfand, so genannt, weil jeder
sein Gedicht sich selbst wählen konnte, leiteten alle meine dreiundzwanzig Klassengefährten
ihre rhetorischen Produktionen folgendermaßen ein: »Weihnacht, Gedicht von Karl May«. Ich
war der einzige, welcher einem sogenannten Klassiker die Ehre erwies, auch mit genannt zu
werden. Es wurde Mode, mein Gedicht im Notizbuch überall mit herumzutragen, um es bei
jeder unpassenden Gelegenheit hervorzunehmen, und ich hatte das zweifelhafte Glück, noch
monatelang mit Fragen bestürmt zu werden, warum ich grad diese und nicht jene Wendung
gebraucht oder grad diesen und keinen anderen Reim gewählt habe. Es wurden Verse über
Verse geschmiedet, bis die ganze Lehrerschaft sich endlich über die »Katheten und
Moneten«, »Verbalien und Australien«, »Romulus und Fidibus«, »Multiplikant und Elefant«
so erbost fühlte, daß unter dem Vorsitze des bereits genannten »Alten« beschlossen wurde,
gegen diesen Unfug ohne Nachsicht vorzugehen. Die nun folgenden Verweise und anderen
Strafen erreichten zwar ihren Zweck, hatten aber leider für mich die Folge, daß ich, der vorher
so Vielumworbene, nun wie eine Selters- unter lauter Champagnerflaschen gemieden wurde,
was den ebenso wohlbegründeten wie unerschütterlichen Vorsatz in mir wachrief, meine
etwaigen Gedichte auf alle Fälle erst nach meinem Tode erscheinen zu lassen. Daß ich diesem
Entschlusse bis auf einige wenige Ausnahmen treu geblieben bin, macht mich gewiß des
Dankes der Mit- aber wohl schwerlich der Bewunderung der Nachwelt wert!
Was die oben erwähnte Weihnachtsreise betrifft, so pflegte ich in allen Ferien eine längere
Fußwanderung vorzunehmen. Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus
noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum
von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten, was durch eine weite Gehtour am
besten geschehen konnte. Dabei schloß sich mir meist ein mir sehr sympathischer Mitschüler
an, der, wenn auch nicht so arm wie ich, aber doch ebenfalls zur Sparsamkeit veranlaßt