Nesthäkchens Backfischzeit. Else UryЧитать онлайн книгу.
sind sie aber nicht – ach Gott, ach Gott, was fange ich bloß an!« Nesthäkchen raste vom Zimmer zum Korridor und vom Korridor ins Zimmer zurück. Puck, ihr Liebling, der ihr gerade in die Quere kam, bekam in der Eile einen Tritt, daß er sich aufheulend in eine sichere Ecke verkroch. Annemarie kümmerte es heute nicht. »Meine Schuhe sind sicher gestohlen worden, ein Patient wird sie mitgenommen haben« – jammerte sie. »Ich muß aber wirklich jetzt fort! Klaus geht auch schon.« Letzteres war allerdings ein Beweis dafür, daß die Schule bereits begonnen hatte.
»Annemiechen, hier sind se ja. Du hast se jestern bei mich in der Küche jelassen.« Hanne brachte Fräulein Liederlich, die gerade entwischen wollte, die vermißten Überschuhe hinterher. »Ich muß se aber noch'n bißchen sauber machen, se sind zu dreckrig.«
»Schadet nichts – ich muß zur Schule.« Annemarie war bereits in einem drin.
»Reg' dir nich so auf, Kind, du lernst doch noch mehr als jenuch. Renn dir auch nich so ab, Annemiechen, du rennst dir sonst die Schwindsucht an'n Hals – – –« Annemarie hörte die treue Hanne längst nicht mehr.
Die war bereits die Treppe hinab, hinaus aus dem Hause – pardauz – da flog sie die drei Stufen, die von der Haustür zur Straße hinabführten, hinunter, anstatt sie zu gehen. Fräulein Backfisch lag der Länge nach im tiefen Schnee. Gut, daß der wenigstens weich war. Annemarie hatte nicht mal Zeit, sich zu schämen. Denn Herr Thielen, Margots Vater, der mit einigen anderen Mietern beim Schneeschaufeln war, rief ihr zu: »Was, jetzt gehst du erst zur Schule, Annemarie? Meine Margot wird bald wieder nach Hause kommen.« Und Mäxchen Kulicke, der kleine Pflegesohn des Hausmeisters, eine echte Berliner Range, schmetterte sogar hinter ihr her:
»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie,
Sie machen ja eine Rutschpartie.«
»Verflixter Bengel!« wütete Annemarie in sich hinein, während sie sich nicht mal Zeit nahm, den Schnee von den Sachen zu klopfen. »So ein Bengel – na warte man, mein Söhnchen, deine Dresche kriegst du ein andermal dafür.« Annemarie fühlte sich nämlich noch immer an der Erziehung des kleinen Mäxchens beteiligt. Hatte sie ihn doch als kleinen elternlosen Ostpreußensäugling vor Jahren in ihrem Puppenwagen beherbergt.
Nein, war das heute ulkig auf der Straße. Man konnte in dem tollen Schneegetriebe kaum die Augen aufhalten. Keine Elektrische fuhr, weil die Gleise alle verschneit waren. Die Schneeböschung längs des Fußsteiges war so hoch, daß Annemarie nur mit Mühe darüber hinwegsehen konnte. Ach, der alte Geheimrat von nebenan war ja auch beim Schneeschippen dabei. Und die junge Frau Assessor, der Student von Nummer neunzehn und der dicke Schlächtermeister, alles durcheinander. Doktor Brauns Nesthäkchen kannte die meisten von ihnen von ihrem Balkonaufenthalt im Sommer her.
Das Vorwärtskommen in dem hohen Schnee war nicht so einfach. Einen Schritt ging man, einen rutschte man. Und nun noch mit den hohen Überschuhen, die so unbequem und lästig waren. Sollte sie dieselben flink ausziehen und in die Mappe stecken? Annemarie überlegte. Nein, es ging nicht. Die Eltern verließen sich darauf, daß sie die Gummischuhe trug, es war unehrlich, wenn sie sie damit hinterging. Trotz mancher kleinen Fehler war Annemarie Braun ein durch und durch wahrheitsliebendes Mädchen. Den Schulbüchern und Heften würde es auch nicht gerade zur größeren Sauberkeit gereichen, wenn sie die nassen Gummischuhe dazu packte. Und überhaupt – zu spät kam sie ja auf alle Fälle. Wenn wenigstens noch in der ersten Stunde lateinisches Extemporale geschrieben worden wäre. Dann wäre ihr die Verspätung höchst angenehm gewesen. Aber die erste Stunde war Deutsch bei Fräulein Neubert, einer strengen und wenig beliebten Lehrerin.
Heiliges Kanonenrohr – dieser Kraftausdruck stammte natürlich von Klaus – die Schuluhr wies ja fast schon auf halb neun. Tiefe, beklemmende Stille auf den Treppen und in den Gängen. Aus den unteren Klassen des Lyzeums klangen die lauten plärrenden Stimmen der kleinen Abcschützen zusammen im Chor.
Dort hinter jener Tür, der ersten Klasse des Lyzeums, saß jetzt Margot Thielen. Ob die wohl ahnte, daß sich ihre Freundin Annemarie hier so scheu vorbeischlich?
Das Mädchengymnasium lag im anderen Flügel des ausgedehnten roten Backsteingebäudes. Herzklopfend stand Annemarie endlich vor der Tür, die ein Schild »Untersekunda« trug. Sie war zu schnell gelaufen – sicherlich – daher das dumme Herzklopfen. Denn Angst oder vielmehr »Bammel« vor Fräulein Neubert hatte sie doch nicht etwa! Ih, keine Spur!
»Nanu?« Fräulein Neubert richtete die Augen hinter den großen runden Hornbrillengläsern – »Eulenaugen« nannten sie die bösen Mädel, – auf den mit glühenden Wangen plötzlich austauchenden Backfisch. »Nanu?« sagte sie noch einmal und nichts weiter. Aber in diesem Schweigen lag eine sprechendere Strafpredigt, als wenn die Oberlehrerin eine lange Rede gehalten hätte.
»Ach, entschuldigen Sie, bitte, Fräulein Neubert,« begann Annemarie möglichst unbefangen, »es schneit nämlich draußen so sehr.«
»Ach nee!« machte die Lehrerin. »Hast du noch mehr solcher interessanten Neuigkeiten?«
Die Klasse, die sonst gern jeden Witz der Lehrer belachte, wagte es diesmal nicht. Die Eulengläser funkelten gar zu ärgerlich.
»Mein Vater und mein Bruder haben heute morgen Schnee geschippt,« begann Annemarie von neuem, »und – – –« sie kam nicht weiter.
»Möchtest du uns nicht verraten, was du damit zu tun gehabt hast? Sogar wenn du dich persönlich daran beteiligt hättest, verlange ich von einer Sekundanerin soviel Pflichtbewußtsein, daß sie die Schulstunde pünktlich innehält. Ich wünsche keine Entschuldigung mehr, Annemarie Braun – gehe auf deinen Platz.«
Annemarie machte ein höchst zufriedenes Gesicht, so leichten Kaufes davongekommen zu sein. »Gott sei's gepfiffen und getrommelt, daß sie mich nicht ins Klassenbuch eingeschrieben hat,« flüsterte sie der vor ihr sitzenden Ilse Hermann zu.
Es lag heute wie ein Druck auf der Untersekunda. Das lateinische Versetzungsextemporale, das in der nächsten Stunde drohte, warf bereits seine beängstigenden Schatten voraus. Selbst die muntere Annemarie wurde von dieser Stimmung gefangen genommen. Fräulein Neubert aber schien wenig Verständnis für die beklemmende Atmosphäre zu haben. Sie war heute durchaus unzufrieden mit der Aufmerksamkeit und Teilnahme am Unterricht. Beide Teile, sowohl der lehrende wie der lernende, atmeten befreit auf, als die Schulglocke laut den Stundenschluß verkündete.
Ach, für die Untersekunda war es nur eine Galgenfrist. Keine mochte ihr Frühstücksbrot, das sonst meist schon in der ersten Pause vertilgt wurde, in Angriff nehmen. Jeder war die Kehle vor angstvoller Erwartung wie zugeschnürt. Marlene und Ilse hatten den dunklen und blonden Kopf zusammengesteckt und lernten noch auf Mord die ganze Schulweisheit der lateinischen Grammatik auswendig. Vera Burkhard sagte mit in den Ohren gestopften Zeigefingern die Konjugationen der unregelmäßigen Verben auf. Marianne Davis aber schrieb bereits in das lateinische Heft mit ihrer schönsten Schrift: »6. Klassenarbeit« als Überschrift.
Annemarie Braun tat nicht mit. Ach was, jetzt lernte man doch nichts mehr. Wozu sich noch die Zwischenpause verderben! Aber auch sie war lange nicht so lebhaft wie sonst. Mit einer an ihr fremden Schweigsamkeit starrte sie in das dichte Flockengetriebe hinaus. Plötzlich aber rief sie mitten in die umherschwirrenden lateinischen Vokabeln, Verben und Deklinationen: »Kinder – Kinder, ich hab's! Ich hab' einen famosen Gedanken!«
»Was denn« – »sag' doch« – »so rede doch!« – – – Man umdrängte sie.
»Herwig wird sicher im Schnee stecken geblieben sein, er wohnt doch in Lichterfelde. Oder vielleicht ist er auch ausgerutscht, es ist mächtig glatt draußen. Himmlisch, wenn uns der Schnee vom Extemporale befreien würde!«
»Den Gefallen tut er Ihnen aber leider nicht,« klang da in das Geschwirr von hellen Mädchenstimmen eine heisere alte Männerstimme. In ihrer Aufregung hatten die Schülerinnen das Zeichen zur Stunde überhört. »Ihr menschenfreundlicher Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen, Braun. Weder ist die Bahn, noch ich selbst im Schnee stecken geblieben. Hä – hä – hä – hä!« – – – Der alte Herr lachte hüstelnd. »Und nun Extemporalehefte vor« – er schlug plötzlich