Leiche an Bord. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
viele Unbefleckte hier.«
»Unbefleckte?«
»Ja, so nenne ich das. Auf jeden Fall haben wir schnell gemerkt, dass wir etwas tun müssen. Vier Wochen später hatten wir dann den ersten Kurs auf die Beine gestellt. Ich habe das übernommen. Die anderen Kollegen haben sich um das Budget gekümmert und vor allem die Häuptlinge davon überzeugt, dass das Ganze eine gute Sache ist. Seitdem laufen die Seminare. Für den Sommer ist aber jetzt eine Pause geplant.«
»Gerade, wo es hier richtig schön wird.«
»Ich bin nur sechs Monate freigestellt, dann will mein Chef mich zurück in Hamburg haben.« Bruckner zögerte kurz. »Es ist aber auch so, dass ich mal eine Pause brauche. Beim letzten Seminar hat mich ein Kollege aus Berlin begleitet. Er wird im Herbst die zweite Staffel übernehmen. Und danach müssen die Verantwortlichen entscheiden, ob und wie es weitergeht.«
»Aber das Dozieren macht Ihnen Spaß?«, fragte ich.
Bruckner tippte sich an den Kopf. »Hier oben steckt eine Menge Erfahrung drin. Ich merke, dass ich was weitergeben kann und vor allem, dass man mir zuhört.«
»So ist mir das in Quantico auch gegangen«, stellte ich nickend fest. »Was bringen Sie den Leuten denn bei, woraus besteht Ihr Lehrstoff?«
Bruckner lächelte. »Nach dem allerersten Kurstag bin ich nachts um drei aufgewacht und habe mich an den Computer gesetzt. Der erste Kurstag war nicht schlecht, aber mir hat etwas gefehlt.«
»Und was hat Ihnen gefehlt?«
»Die Fälle, echtes Anschauungsmaterial. Wir hatten den Kurs sehr theoretisch aufgebaut. Das habe ich übrigens von Ihnen übernommen. Sie sind mir doch immer mit Ihrer Theorie gekommen, mit den Checklisten und Anleitungen, mit den Herleitungen. Ihretwegen habe ich damals doch den Sherlock Holmes gelesen.«
»War das keine gute Idee?«, fragte ich.
»Doch, doch, aber bei dem Seminar haben mir eben die echten Fälle gefehlt. Genau das habe ich morgens um drei gemerkt. Ich habe mich in sämtliche Polizeidatenbanken eingewählt, die mir eingefallen sind …«
»Und da haben Sie Ihre Fälle gefunden?«, unterbrach ich Bruckner.
»Genauso war es. Ich habe ein paar Folien gemacht. War nicht schwer, denn ich bin ja eigentlich Praktiker, und genau das wollte ich den Kursteilnehmern vermitteln.« Bruckner stutzte. »Wollen Sie meine Unterlagen mal sehen? Wollen Sie mal sehen, wie ich meinen Kurs aufgebaut habe?«
»Natürlich, aber es ist Ihr Kurs. Erwarten Sie keine Beurteilung von mir.«
»Nein, nein, das will ich gar nicht. Wir haben in unserer Gruppe darüber gesprochen, das ist längst optimiert, also zumindest so, wie wir es für richtig halten.«
Bruckner ließ sein Besteck fallen und bückte sich unter den Tisch. Dort stand seine Aktentasche, in der er zu wühlen begann. Ich beugte mich vor und sah ihm interessiert zu. Er prüfte einige Papiere, zog dann eine rote Mappe hervor und legte sie auf den Tisch. Er schaute mich an, während er die Gummibänder von der Mappe löste.
»Ich präsentiere die Sachen hier sonst mit dem Beamer und blende die Fakten der einzelnen Folien nach und nach ein.«
Er zog ein farbiges Blatt aus der Mappe und schob es mir hin. Ich beugte mich darüber. Ein Frauenkopf, kein Foto der Leiche, aber offensichtlich das Opfer eines Verbrechens. Neben dem Bild standen die Falldaten.
»Das ist immer der Einstieg«, kommentierte er. »Ich nenne sie Maria Müller. Das ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Ich arbeite nie mit den echten Identitäten, aber dennoch haben die Opfer der Schulungsfälle oft einen Namen. Das erleichtert die Erklärungen, auch für die Kursteilnehmer.«
Ich nickte. »Das ist ja gerade das Prinzip von Jane oder John Doe, das in den Staaten angewendet wird.«
»Mit dem Unterschied, dass ich natürlich weiß, wer Maria Müller wirklich war, denn es ist selbstverständlich ein echter Fall«, erklärte Bruckner weiter.
»Aber Sie haben einige Details konstruiert, damit Sie besser schulen können?«
»In der Regel mache ich das schon, damit es in der Schulung für die Teilnehmer schlüssiger ist und wir schneller zum Ziel kommen. Bei diesem Fall war das aber nicht notwendig, der gibt auch so genug her.«
»Und das wäre?«
Bruckner überlegte kurz, wie er beginnen sollte. »Sie war neununddreißig, geschieden, aber dem männlichen Geschlecht nicht abgeneigt. Natürlich nicht im Sinne von Prostitution, ganz und gar nicht. Sie hatte einige Liebhaber hintereinander, in relativ kurzer Zeit. Sie war ja ungebunden und konnte machen, was sie wollte.« Bruckner zog die zweite Folie aus der roten Mappe. »Das ist der Leichenfundort.« Er tippte auf die Fotografie, aus der die gesamte Folie bestand.
Ich hatte schnell den Überblick. Es war offensichtlich ein Park, eine Bank neben einer Laterne. Dahinter ein Gebüsch in voller Blüte, weiter nichts. »Macht es nicht Sinn, den Fundort zu fotografieren, bevor die Leiche abtransportiert wurde?«, stellte ich spöttisch fest.
Bruckner schüttelte den Kopf. »Die Leiche ist noch da.«
Er zog eine dritte Folie hervor. Ein Zoom auf das Gebüsch hinter der Bank. Und dann sah ich es auch. Ich tippte auf die Fotografie.
»Der schwarze Sack, der hier durch die Zweige schimmert.« Ich überlegte. »Die alte Frage, wollte der Täter, dass die Leiche gefunden wird, oder wusste er es nicht besser?«
Bruckner lächelte. »Sehr schön Ihre Reaktion. Genau darauf versuche ich meine Kursteilnehmer auch zu bringen. Ich habe hier noch fünf, sechs weitere Bilder, aber sie können sich wohl schon denken, wie es um den Fall steht, wobei Sie natürlich auch den Vorteil haben, dass ich Ihnen schon Einzelheiten über das Opfer genannt habe. Die Informationen gebe ich immer erst, wenn der Leichenfundort ausgiebig diskutiert wurde.«
»Sie diskutieren in Ihren Kursen?«
»Die Teilnehmer diskutieren, ich nicht«, antwortete Bruckner. »Das sind alles Polizisten, die ich da in meinen Kursen habe. Die nehmen den Fall sofort an. Das ist der große Vorteil. Einige ahnen dann schon, wie es zusammenpasst …«
»Aber genau das sollte man nicht tun«, unterbrach ich Bruckner. »Nie die Objektivität verlieren, ansonsten übersieht man etwas. Es wird immer Fälle geben, die nicht aus dem Repertoire der Fälle stammen, die, wie soll ich es formulieren, üblich sind.«
Bruckner nickte zustimmend. »Genau, und von den Fällen, an die man mit seiner hochgelobten Routine herangegangen ist, landen zehn Prozent als Cold Cases in den Kellern des Polizeipräsidiums.«
»Und das hier war auch so ein Fall?« Ich nickte in Richtung der Fotos vor mir auf dem Tisch.
Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Nach zweiundsiebzig Stunden hatte man den mutmaßlichen Täter, nach einer Woche sein Geständnis.«
»Und so etwas bringen Sie in Ihren Kursen?«, fragte ich skeptisch.
»Ich sagte nicht, dass man den Täter eine Woche lang verhört hat. Das Verhör hat nur sechsundzwanzig Minuten gedauert, die Zeit, die die Profiler brauchten, um den Täter mit den Fakten zu konfrontieren.«
»Und diese Fakten lassen Sie Ihre Kursteilnehmer erarbeiten?«
»Ganz richtig. Ich werfe nur ein paar Informationen hinein und dann geht das Spiel los«, erklärte Bruckner weiter. »Ich habe es erst in der ganzen Gruppe probiert, dann habe ich Zweierteams gebildet, die hinterher vorgetragen haben. Das ist viel besser. Jede Gruppe kommt natürlich irgendwie zur Lösung. Ich achte dabei nur auf das Wie.«
Ich nickte. »Lassen Sie es mich auch einmal probieren«, forderte ich Bruckner auf.
»Das ist natürlich zu leicht für Sie.« Er lächelte. »Also, stellen Sie sich eine Liste vor, mit männlichen und weiblichen Bekannten und Freunden des Opfers. Wen verhören Sie zu erst?«
»Ich verhöre nicht, ich befrage, und zwar die Frauen.«