Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.
aufschreibst. Sie sind alle Diebe und würden stehlen.«
»Soviel ich beurteilen kann«, erklärte Spurstow seinen Freunden, »ist er an – irgend etwas gestorben: Herzlähmung, Hitzschlag oder sonst irgendeiner - Heimsuchung. Wir müssen ein Inventar seiner Habseligkeiten aufnehmen und so.«
»In den Tod gehetzt ist er worden!« behauptete Lowndes. »Sieh dir nur die Augen an! Um Gotteswillen, laß ihn nicht mit offenen Augen begraben werden.«
»Was es auch immer gewesen sein mag, jetzt ist er erlöst von aller Qual!« sagte Mottram mild.
Spurstow blickte scharf in die Augen des Toten:
»Komm mal her! Siehst du etwas drin?«
»Ich kann nicht hinschauen«, schluchzte Lowndes. »Deck sein Gesicht zu. Gibt es wirklich ein Furchtgefühl auf Erden, das einen Mann so verwandeln kann?! Es ist grauenhaft. Spurstow, deck seine Augen zu!«
»Auf Erden? Nein!« sagte Spurstow; Mottram lehnte sich an ihn und blickte forschend hin:
»Ich sehe nichts. Nur ein paar graue Flecken in der Pupille. Etwas anderes kann es nicht gut sein.«
»Meine ich auch. Denken wir mal nach, was zu geschehen hat. Ich brauche einen halben Tag, um eine Art Sarg zurechtzuzimmern, Lowndes, altes Haus, geh hinaus und befiehl den Kulis, sie sollen die Erde neben Jevins' Grab aufschaufeln. Und du, Mottram, geh mit Chuma durch den Bungalow und laß die Siegel anlegen. Schickt mir zwei Leute herein, damit ich anfangen kann.«
Als die beiden starkarmigen Diener zu ihren Genossen zurückkehrten, wußten sie eine sonderbare Geschichte zu erzählen: der Doktor Sahib hätte sich vergebens bemüht, ihren Herrn durch magische Künste ins Leben zurückzurufen. Zum Beispiel habe er eine kleine grüne, bisweilen leise knackende Schachtel vor die Augen des Toten gehalten und dabei erschrocken gemurmelt, dann habe er sie mit sich genommen.
Das dröhnende Hämmern auf einen Sarg ist kein angenehmes Geräusch, aber die, die dergleichen kennen, behaupten, viel schrecklicher sei noch das leise Rascheln der Bettücher und das Hin- und Herschieben der Lagerstätte, wenn der Abgeschiedene zum Begräbnis angekleidet und die verhüllte Gestalt langsam herabgelassen wird, bis sie den Boden berührt, und alles ruhig mit sich geschehen läßt.
Noch im letzten Augenblick wurde Lowndes von Gewissensmahnungen ergriffen. »Was meinst du, sollen wir die Gebete verrichten?« fragte er Spurstow.
»Ich glaube: ja! Du bist der Ältere im Zivildienst. Tue du's!«
»Ich? An diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber vielleicht kann ich irgendwo einen Geistlichen auftreiben. Wenn ich noch so weit reiten müßte, ich tat's gern, um dem armen Hummil eine Chance zu geben.«
»Unsinn«, sagte Spurstow, und gleich darauf ertönten von seinen Lippen die gewaltigen Worte, mit denen der Gottesdienst bei einem Begräbnis beginnt.
Nach dem Frühstück rauchten die drei stumm ihre Pfeifen zum Gedächtnis des Toten. Plötzlich sagte Spurstow nachdenklich:
»In der medizinischen Wissenschaft ist es nicht bekannt.«
»Was?«
»Bilder in den Augen von Leichen.«
»Um Himmelswillen, sprich nicht mehr von all dem Entsetzlichen!« rief Lowndes. »Ich hab einmal einen Eingeborenen vor Schrecken sterben sehen, als ein Tiger hinter ihm her war; ich weiß, was Hummil getötet hat.«
»Einen Schmarren weißt du! Ich will mich jetzt überzeugen, was es war«, und Spurstow zog sich mit einer Kodakkamera in das Badezimmer zurück. Nach ein paar Minuten hörte man drin ein Geräusch, als ob etwas in Stücke geschlagen würde. Gleich darauf trat der Arzt, totenblaß, wieder ein.
»Hast du ein Bild bekommen?« fragte Mottram. »Ist etwas auf der Platte?«
»Nein. Nichts. Natürlich. Kann dir nichts zeigen, Mottram. Hab die Filmspule herausgenommen. War nichts drauf. Wie sollte es auch!«
»Das«, sagte Lowndes gedehnt, mit einem ausdrucksvollen Blick auf die heftig zitternde Hand des Arztes, die sich vergeblich bemühte, die Pfeife wieder in Brand zu setzen, »das - ist - eine - verdammte Lüge!«
Mottram versuchte zu lächeln. »Spurstow hat recht«, sagte er. »In einem Zustand wie dem, in dem wir uns jetzt befinden, würden wir auch das Unmöglichste glauben. Zwingen wir uns zur Besonnenheit.«
Lange sprach keiner von ihnen auch nur ein Wort. Der heiße Wind draußen pfiff ums Haus, und die ausgedörrten Bäume ächzten. Gleich darauf, in blinkendem Kupfer, Stahlglanz und zischendem Dampf, kam der Tageszug angebraust durch die sengende Hitze. »Am besten, wir fahren gleich mit!« meinte Spurstow. »Kehren wir zu unserer Arbeit zurück. Der Totenschein ist ausgefüllt. Hier haben wir nichts mehr zu suchen, und Arbeit wird uns helfen, unsere fünf Sinne beisammen zu halten. Vorwärts.«
Aber keiner rührte sich: eine Eisenbahnfahrt zu Mittag im Juni hat nicht viel Verlockendes. - Entschlossen griff Spurstow nach Hut und Reitpeitsche, wandte sich in der Türe noch einmal um und sagte:
»Wir hier auf Erden, wir haben das Leben;
Ob's einen Himmel gibt? Ob eine Hölle?
Wer wüßte Antwort auf die bange Frage?«
Weder Mottram noch Lowndes konnten etwas darauf erwidern.
Naboth
Diese Geschichte könnte eine Allegorie des indischen Kaiserreiches sein, aber abgespielt hat sie sich nichtsdestoweniger und zwar folgendermaßen:
Ich begegnete Naboth am Rande meines Gartens. Er trug einen leeren Korb auf dem Kopf und ein schmutziges Tuch um die Lenden. Das war anscheinend seine ganze Habe - damals, als ich ihn zum ersten Male sah. Er eröffnete unsere Bekanntschaft mit Betteln, war sehr mager und trug fast ebensoviel Rippen zur Schau wie sein Korb. Er erzählte mir eine endlose Geschichte von Fieber und einem Prozeß und einem eisernen Kessel, den ihm das Gericht nach vorheriger Pfändung beschlagnahmt hätte. Ich griff in die Tasche, um Naboth zu helfen; haben doch auch bekanntlich orientalische Herrscher fremden Abenteurern bis zur Neige ihrer königlichen Schatzkammern geholfen! Ich fand eine Rupie in den Futterfalten meiner Westentasche - wußte gar nicht, daß sich eine solche dort verkrochen hatte - und reichte sie Naboth, gewissermaßen als ein direktes Geschenk des Himmels. Er versicherte mir, ich sei der einzig berufene Beschirmer der Armen, den er jemals im Leben gesehen hätte.
Am nächsten Morgen erschien er wieder, ein wenig gerundeter an Körperfülle, ballte sich zu einem Knäuel auf meiner Veranda zusammen und beteuerte, ich sei sein Vater, seine Mutter und der direkte Abkömmling des indischen Götterpantheons - außerdem lenke ich fraglos die Geschicke des Universums. Er selbst hingegen sei nur ein geringer Zuckerwarenverkäufer und viel weniger, als der Staub zu meinen Füßen. Ich hatte derlei Hymnen schon oft gehört und fragte ihn daher, was sein Begehr sei. Meine Rupie, sagte Naboth, habe ihm die dauernden Wonnen des Paradieses erschlossen, nur ein Wunsch bliebe ihm noch, nämlich, in der Nähe des Hauses seines Wohltäters einen Zuckerstand errichten zu dürfen, um beständig sein - das heißt mein - erhabenes Antlitz vor Augen zu haben und zu sehen, wie ich komme und gehe und die Welt erleuchte. Ich gewährte ihm gnädigst die Bitte und er ging von hinnen, den Kopf zwischen den Knien.
Vom untersten Ende meines Gartens senkte sich, gekrönt von dichtem Gestrüpp, ein Abhang zur Straße hinab. Ein kurzer Fahrweg führt an dem Gebüsch vorbei von meinem Hause zum Korso. Am nächsten Tag sah ich, daß Naboth sich am Fuße des Abhanges hingesetzt hatte - mitten hinein in den Staub der Straße und in die volle Glut der Sonne, mit einem schmächtigen Korb schmieriger Süßigkeiten vor sich; er hatte offensichtlich mit meiner großmütigen Gabe als Betriebskapital wieder ein Geschäft angefangen. Ich war gewissermaßen der Schöpfer dieses Paradieses. Bei Anbeginn war die Erde ringsum wüst und leer gewesen, dann zeigten sich die Uranfänge in schwachen Umrissen: Naboth, ein Körbchen, grauer Staub und Sonnenschein, das war, ehe die Anzapfung meines Reiches anhub.
Am nächsten Tage bereits hatte sich Naboth näher an mein Gestrüpp herangepürscht, nannte ein Palmenblatt sein eigen und wedelte damit