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Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.

Rudyard Kipling - Gesammelte Werke - Rudyard Kipling


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der Zahl neunhundert auf zweitau send pro Quadratmeile bepflanzten Bodens. Der Abgeordnete von Klein-Tooting durchwanderte Indien in Zylinder und Gehrock, schwätzte ein langes und breites über die Wohltat der englischen Regierungsmaßnahmen, schlug, als dringend wichtig, eine allgemeine Wahlreform vor und eine Generalbeschenkung der Gerechtsamen. Seine leidensgewohnten Gastgeber lächelten dazu und hießen ihn willkommen und, wenn er gelegentlich eine Pause in seinem Geschwätz eintreten ließ, um auf irgendeinen frühzeitig in Blüte stehenden Dhak-Baum als auf ein günstiges Vorzeichen kommender froher Begebnisse hinzuweisen, lächelten sie noch mehr.

      Der Distriktskommissar von Kot-Kumharsen war es, der anläßlich eines Tagesaufenthaltes im Klub eine Nachricht brachte, die Holden derart das Blut in den Adern erstarren machte, daß er das Ende der Erzählung nicht mehr verstand. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie Satz sich an Satz reihte, bisweilen unterbrochen von Fragen der Zuhörer:

      »- und da war Schluß mit dem Gequassel. Hab noch nie einen Menschen so erstaunt gesehen. Bei Gott, ich glaubte schon, er wolle eine Frage an ein leeres Parlament stellen. Mitpassagier auf seinem Schiff gewesen - schwätzte was über Cholera - dann war er tot in achtzehn Stunden - jawohl. Da gibt's nichts zu lachen, meine Herren. Der Abgeordnete von Klein-Tooting rast - besser gesagt: das Herz hat er in den Hosen - gedenkt, seine werte Person aus Indien fluchtartig zu entfernen.«

      »Ich möchte es mich etwas kosten lassen, wenn ihn der Teufel holte. Würde gern ein paar Küster seines Gelichters auf ihr eigenes Kirchspielbegräbnis schicken. Aber was ist's mit der Cholera? Man hört da neuerdings wieder allerhand Gerüchte«, sagte der Vorstand einer dividendenlosen Salzlecke.

      »Weiß nichts Genaues«, entgegnete der Deputatskommissar nachdenklich. »Es schwirrt durch die Luft wie Heuschrecken. Sporadisches Auftreten der Cholera oben im Norden - wir nennen's nämlich ›sporadisch‹ des Anstands halber. Die Frühlingssaat steht niedrig in fünf Distrikten, und die Leute haben schon fast vergessen, wie Regen aussieht. Dabei ist beinahe März. Ich will niemand verknobeln, aber mir scheint, die Natur wird heuer den Rotstift zur Hand nehmen. Noch im Sommer.«

      »Natürlich, gerade jetzt, wo ich mir Urlaub zu nehmen gedenke!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

      »Viel Urlaub wird's dies Jahr nicht geben, wohl aber desto mehr Avancement! Ich bin hergereist, um der Regierung nahezulegen, daß mein Bewässerungskanalprojekt auf die Liste der Hungersnotstandsarbeiten gesetzt wird. Es weht ein böser Wind, der nichts Gutes verheißt. Der Kanal muß endlich fertig werden.«

      »Immer das gleiche, alte Programm also«, sagte Holden, »Hungersnot, Fieber, Cholera?«

      »Ach nein. Nur die übliche Schlamperei und ein besonders zahlreiches Auftreten der Saisonkrankheiten. Sie werden es nächstes Jahr in den Statistiken lesen, wenn Sie noch am Leben sind! Aber was denn Sie! Sie sind ein glücklicher Bursche: Sie haben kein Weib daheim, dessentwegen Sie sich sorgen müßten. Die Bergstationen werden heuer voll von Frauen sein!«

      »Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig das Bazargeschwätz«, fiel ein junger Zivilbeamter des Sekretariats ein. »Ich habe beobachtet -«

      »So? Sie haben?« unterbrach der Kommissar. »Sie werden sehr bald noch viel mehr zu beobachten haben, mein Sohn. Inzwischen möchte ich Ihnen aber -« und er nahm den jungen Herrn beiseite, um mit ihm über das Kanalprojekt zu diskutieren, das ihm so am Herzen lag. Holden ging in seinen Junggesellen-Bungalow und es kam ihm mit aller Deutlichkeit zu Bewußtsein, daß er nicht allein auf der Welt war und der Furcht um ein anderes Wesen preisgegeben - die einzige Furcht des Menschen, die seiner Seele nützt.

      Zwei Monate später traf ein, was der Kommissar vorausgesagt hatte: die Natur nahm den »Rotstift« zur Hand. Der Frühlingsmißernte auf dem Fuß folgte der Schrei nach Brot, und, da die Regierung beschlossen hatte, niemand dürfe an Mangel sterben, schickte sie Weizen. Aber da kam die Cholera aus allen vier Richtungen der Windrose. Im Nu war eine halbe Million Menschen auf den Beinen und pilgerte zu irgendeinem heiligen Schrein. Viele starben zu den Füßen ihres Gottes; andere packte es »nur« und sie eilten durch das Land, die Pestilenz mit sich herumschleppend und von Dorf zu Dorf tragend. Das Volk belagerte die Eisenbahnzüge, hing auf den Trittbrettern und quetschte sich auf den Dächern der Waggons, aber - die Cholera folgte ihnen: auf jeder Station lud man Tote und Sterbende aus. Sie starben am Wegesrand und die Pferde der Engländer scheuten vor den Leichen im Gras. Kein Tropfen Regen wollte fallen und die Erde verwandelte sich in Eisen, damit die Menschen dem Tod nicht entrannen, indem sie sich eingruben. Die Engländer schickten ihre Frauen in die Berge und gingen an ihre gewohnte Arbeit, einander ersetzend, wenn der Vordermann erledigt war. Holden, fast krank vor Furcht, er könne sein Liebstes auf Erden verlieren, tat sein Bestes, Ameera zu überreden, mit ihrer Mutter ins Himalajagebiet zu fliehen.

      »Warum soll ich gehen?« fragte sie, als sie eines Abends wieder auf dem Dach saßen.

      »Überall wütet die Krankheit und das Volk stirbt dahin. Alle weißen mem-log sind bereits fort.«

      »Alle?«

      »Alle - höchstens ist noch hie und da ein Dickschädel zurückgeblieben und macht dem Gatten das Herz schwer, indem sie sich der Todesgefahr aussetzt.«

      »Oh, die dableibt, die ist meine Schwester, und du darfst sie nicht beschimpfen, denn ich will auch so ein Dickschädel sein. Ich bin froh, daß die Frechen der weißen mem-log alle fortgegangen sind.«

      »Spreche ich mit einer Frau, oder mit einem Kind? Geh in die Berge und ich werde dafür sorgen, daß du wie eine Königstochter reist. Denk nur, Kind: in einem rotlackierten Ochsengefährt, verschleiert und hinter Vorhängen, Messingpfauen auf dem Verdeck und rote Tuchbehänge! Zwei Ordonnanzen gebe ich dir mit zum Schutz, und -«

      »Still! Jetzt sprichst du wie ein Kind! Was soll mir dieser Tand? Tota hätte die Ochsen getätschelt und mit dem Zierat gespielt - vielleicht seinetwegen hätte ich mich zur Engländerin machen lassen und wäre gereist. Aber so? Ich will nicht. Sollen die mem-log davonlaufen!«

      »Aber ihre Gatten schicken sie doch fort, Geliebte!«

      »Eine treffliche Ausrede. Seit wann bist du mein Gatte gewesen, um mir zu sagen, was ich tun soll? Ich habe dir lediglich einen Sohn geboren. Du allein bist das Um-und-Auf meiner Seele. Wie könnte ich abreisen mit der Furcht im Herzen: was, wenn dich ein Unheil befällt? Und wenn es auch nur gering wäre wie der Nagel meines kleinen Fingers - und der ist doch gewiß klein, nicht wahr? - ich würde es merken, und wäre ich selbst im Paradies! Und wenn ich denke, du könntest hier sterben im Sommer - ai, jani, - sterben! Ans Sterbebett würden sie dir ein weißes Weib schicken! Sie würde mir deine Liebe rauben!«

      »Liebe entsteht nicht in einem Augenblick und auch nicht auf dem Totenbett.«

      »Was verstehst du von Liebe, du steinernes Herz? Sie würde deinen Dank mit sich nehmen, und das, bei Gott und dem Propheten und bei Bibi Mirjam, der Mutter des Propheten, - das könnte ich nicht ertragen. Mein Herr und Geliebter, sprich nicht mehr so närrisch zu mir von Weggehen! Wo du bist, da bin auch ich. Es ist genug.« Und sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und verschloß ihm den Mund mit der Hand.

      Kein Glück ist so überwältigend, wie das unter dem Damoklesschwert! Sie saßen beisammen und lachten - gaben einander Kosenamen, offen und ohne Scheu vor der Eifersucht der Götter. Unten die Stadt wand sich in Qual und Angst; Schwefelfeuer schwelten in den Straßen, die Tritonmuscheln in den Hindutempeln heulten und bellten, denn die Götter waren unaufmerksam in jenen Tagen. Ein Gottesdienst wurde abgehalten vor dem großen mohammedanischen Heiligenschrein, und unaufhörlich tönten die Gebete von den Minaretten. Aus den Häusern erscholl Totenklage und da und dort der Schrei einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte und verzweiflungsvoll jammerte, es möge wieder zum Leben erwachen. Sie sahen, wie man die Leichen hinaustrug durch die Stadt, ein kleines klagendes Gefolge hinterdrein, sahen es, küßten sich und schauderten.

      Der Tod hielt eine furchtbare Ernte, denn das Land war krank und brauchte eine Atempause, ehe das ärmliche Leben wieder anfangen konnte, auch nur schwach zu pulsieren. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten der Epidemie gar keinen Widerstand; es überfiel sie und sie saßen still, bis das Schwert des Novembers


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