Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.
Recht zu brüsten in einer Zeit wie dieser, wo wir alle gemeinsam leiden, Menschen- und Dschungelvolk, rein oder unrein. Troll' dich in deine Höhle, Schir Khan!«
Die letzten Worte dröhnten hell wie Trompetenklang, und Hathis drei Söhne schoben sich einen halben Schritt vor; doch es war nicht nötig. Schir Khan schlich sich davon und wagte nicht einmal zu knurren; denn er wußte wie alle – kommt es zum letzten, so ist Hathi Meister der Dschungel.
»Von welchem Recht sprach Schir Khan?« flüsterte Mogli in Baghiras Ohr. »Menschen zu töten ist immer schmachvoll. So lautet das Gesetz. Jetzt aber sagt Hathi – –«
»Frag' ihn selbst. Ich weiß es nicht, kleiner Bruder. Recht oder nicht recht, hätte Hathi geschwiegen, so hätte ich den hinkenden Schlächter schon gelehrt, das Gesetz zu achten. Zum Friedensfelsen zu kommen, frisch vom Menschenmord, und sich dessen noch zu rühmen, das ist Schakalstreich! Außerdem besudelt er uns das gute Wasser!«
Mogli wartete noch ein wenig, um Mut zu sammeln, denn es ist wahrlich keine Kleinigkeit, Hathi so direkt anzureden. Dann rief er: »Was ist das Recht Schir Khans, o Hathi?«
Auf beiden Ufern wurde der Ruf aufgenommen und wiederholt, denn die Bewohner der Dschungel sind immer begierig, Neues zu hören; auch war ihnen unverständlich geblieben, was sich eben ereignet hatte. Nur Balu, der sehr nachdenklich blickte, schien es zu wissen.
»Es ist eine alte Geschichte«, sagte Hathi, »eine Geschichte, älter als die Dschungel. Haltet Ruhe, ihr da an den Ufern, und ich will euch die Geschichte erzählen.«
Unter den Schweinen und Büffeln entstand ein kurzes Schieben und Drängen, und dann riefen die Leittiere eins nach dem anderen: »Wir hören.« Hathi schritt vor, bis er knietief im Wasser bei dem Friedensfelsen stand. Faltig, abgemagert, mit gelblichen Stoßzähnen blieb er doch, wofür das Volk der Dschungel ihn hielt, ihr Meister.
»Ihr wißt, Kinder«, begann er, »daß ihr am meisten von allen den Menschen fürchtet.«
Zustimmendes Gemurmel erklang aus den Reihen der Tiere.
»Dich geht diese Geschichte an, kleiner Bruder«, sagte Baghira zu Mogli.
»Mich? Wieso? Ich gehöre zum Rudel, bin Jäger eines freien Volkes. Was habe ich mit den Menschen zu tun!«
»Unbekannt ist euch, warum ihr den Menschen fürchtet«, fuhr Hathi fort. »Dies ist der Grund: Ganz im Anfang, als die Dschungel entstand – und keiner weiß, wann das war –, lebten wir von der Dschungel alle friedlich beisammen, und keiner hatte Furcht vor dem anderen. Keine Trockenheit gab es in jenen Tagen, und Blätter, Blüten und Frucht wuchsen auf gleichem Baum, und wir aßen nur Frucht und Blätter und Blüten und Gras und Rinde.«
»Gut, daß ich damals noch nicht lebte«, meinte Baghira. »Rinde ist nur gut, um sich die Klauen daran zu schärfen.«
»Und der Herr der Dschungel war Tha, der Urvater der Elefanten. Mit seinem Rüssel zog er aus tiefen Wassern die Dschungel, und wo er mit den Hauern Furchen in die Erdrinde grub, da rannen Flüsse, und wo er aufstampfte mit seinem Fuß, da entstanden Teiche mit gutem kühlem Wasser, und blies er Wind durch den Rüssel – – so – – dann fielen die Bäume tun. Also schuf Tha die Dschungel, und so wurde mir die Geschichte überliefert.«
»An Fett hat sie in der langen Zeit nichts verloren«, flüsterte Baghira, und Mogli lachte verstohlen hinter seiner Hand.
»In jenen Tagen gab es weder Mais noch Melonen noch Pfeffer oder Zuckerrohr, auch nicht jene kleinen Hütten, wie ihr sie alle schon gesehen habt. Und das Dschungelvolk wußte nichts vom Menschen und lebte einträchtig beisammen als ein Volk. Doch bald hoben sie an, über das Futter zu streiten, obgleich Nahrung genug für alle war. Träge wurden sie. Jeder wünschte da zu fressen, wo er gerade lag, wie wir es noch heute zuweilen tun, wenn die Frühlingsregen reichlich gefallen sind. Tha, der erste Elefant, war eifrig beschäftigt, neue Dschungel zu schaffen und das Wasser in die Flußbetten zu leiten. Er konnte nicht überall sein, und so ernannte er den ersten Tiger zum Meister und Richter über die Dschungel; vor ihn sollte das Dschungelvolk all seine Streitigkeiten bringen. In jenen Tagen fraß der Stammvater der Tiger nur Früchte und Gras gleich den anderen. So groß war er wie ich, und sehr schön war er anzusehen, ganz in der Farbe der gelben Lianenblüte. Keinen Streifen oder Flecken hatte sein Fell in jenen guten Tagen, als die Dschungel eben erst erschaffen war. Alle Bewohner der Dschungel kamen zu ihm ohne Furcht, und sein Wort war Gesetz. Denn, denkt daran, damals waren wir ein einziges Volk.
In einer Nacht aber entbrannte wiederum Streit zwischen zwei Böcken – ein Futterstreit, wie ihr ihn jetzt mit Kopf und Vorderläufen austragt –, und als nun die beiden mit ihrem Streit vor den Stammvater der Tiger kamen, der unter Blumen ruhte, da stieß ihn einer der Böcke mit dem Gehörn, und der erste Tiger vergaß, daß er der Herr war und Richter der Dschungel, er warf sich über den Bock und brach ihm den Nacken.
Bis zu dieser Nacht war niemals einer von uns gestorben; und als der erste Tiger sah, was er getan hatte, und der Geruch des Blutes ihm die Sinne verwirrte, da entwich er nach den Sümpfen des Nordens; und wir, das Dschungelvolk, waren nun ohne Richter und begannen untereinander zu kämpfen. Tha vernahm das Getöse und kam zurück. Einige von uns sagten dies, einige das; aber Tha sah den toten Bock zwischen den Blumen liegen und fragte nach dem Mörder. Aber wir vom Dschungelvolk wollten es nicht sagen, weil der Geruch des Blutes auch uns verwirrte, so wie er uns heute verwirrt hat. Wir rannten im Kreise umher, machten Luftsprünge, schrien und warfen die Köpfe. Da gab Tha den Bäumen mit tiefhängenden Zweigen und den rankenden Schlingpflanzen der Dschungel den Befehl, den Mörder des Bockes zu zeichnen, und sagte dann: ›Wer will nun Herr sein über das Dschungelvolk?‹ Da sprang der graue Affe, der in den Bäumen lebt, herbei und sagte: ›Ich will jetzt Herr sein in der Dschungel!‹ Tha lachte und sagte: ›So sei es denn‹, und ging zornig von dannen.
Ihr kennt, meine Kinder, den grauen Affen. Wie er heute ist, so war er damals. Zu Anfang machte er ein weises Gesicht, bald aber begann er sich zu kratzen und auf und ab zu hüpfen. Als Tha zurückkehrte, fand er den grauen Affen Kopf nach unten an einem Ast baumeln und die Untenstehenden nachäffen, die ihn wiederum verspotteten. Und so gab es kein Gesetz in der Dschungel, nur dummes Geschwätz und Worte ohne Sinn.
Da aber rief Tha uns alle zusammen und sagte also: ›Der erste eurer Meister brachte den Tod in die Dschungel und der zweite die Schande. Nun ist es an der Zeit, ein Gesetz zu schaffen, ein Gesetz, das ihr nicht brechen könnt. Jetzt sollt ihr Angst kennenlernen, und wenn ihr ihn gefunden habt, so wisset, soll er euer Meister sein – und das andere wird folgen.‹ Da fragten wir von der Dschungel: ›Wer ist Angst?‹ Und Tha sagte: ›Suchet, bis ihr findet!‹ So eilten wir kreuz und quer durch die Dschungel und suchten Angst, und da kamen auf einmal die Büffel – – «
»Uff!« schnaubte Mysa, der Leitstier der Büffel, von der Sandbank her.
»Ja, Mysa, es waren Büffel. Sie kamen zurück mit der Nachricht, in einer Höhle der Dschungel säße Angst, und er sei unbehaart und stünde und liefe auf den Hinterbeinen. Wir von der Dschungel aber folgten den Büffeln, bis wir zur Höhle kamen, und Angst stand am Eingang, und er war, wie die Büffel gemeldet, haarlos, und stand auf den Hinterbeinen. Als er uns sah, schrie er laut, und seine Stimme erfüllte uns mit der Angst, die wir jetzt haben, und fort stoben wir, uns tretend und stoßend, denn wir hatten Angst. In jener Nacht nun, so wird erzählt, lagen wir nicht alle zusammen, nach alter Gewohnheit, sondern jeder Stamm zog allein für sich davon – Schwein mit Schwein, Wild mit Wild; Horn gesellte sich zu Horn und Huf zu Huf –, Art hielt sich an Art und lag zitternd in der Dschungel. Nur der Stammvater der Tiger war nicht unter uns, denn er hielt sich noch in den Sümpfen des Nordens verborgen. Als ihm nun Kunde kam von dem Ding, das wir in der Höhle gesehen hatten, da sagte er: ›Ich werde hingehen zu dem Ding und ihm das Genick brechen.‹ Also lief er die ganze Nacht durch, bis er zur Höhle kam; aber die Bäume und Schlingpflanzen auf seinem Wege gedachten Thas Befehl und senkten ihre Zweige, als er vorüberkam, und zeichneten ihn über Rücken und Flanken, über Kopf und Lefzen. Wo immer sie ihn berührten, da entstanden Streifen und Flecken auf seinem gelben Fell. Und diese Streifen tragen seine Kinder noch heute. Als er nun zu der Höhle kam, streckte Angst, der Haarlose, die Hand aus und nannte ihn: