Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.
und lachte im Laufen über den Zorn des Bullen.
»Nicht völlig schwand mir meine Kraft«, sagte er, »vielleicht ist das Gift nicht bis in die Knochen gedrungen. Sieh, dort, tief unten schimmert ein Stern.« Er betrachtete ihn durch die halbgeschlossenen Hände. »Beim Bullen, für den mich Baghira in das Rudel einkaufte, die rote Blume loht dort, die rote Blume, neben der ich lag, bevor – bevor ich zu dem ersten Sionipack kam. Zu Ende ist mein Lauf, nun ich sie wiedergesehen habe.«
Die Moräste endeten an einer breiten Ebene, und von dorther blinkte das Licht. Seit sehr langer Zeit hatte Mogli sich nicht mehr um das Tun und Treiben der Menschen gekümmert; in jener Nacht aber zog ihn der Schein der roten Blume wieder geheimnisvoll an.
»Ich will es mir ansehen, wie einst in den alten Tagen«, sagte er. »Ob sich das Menschenvolk wohl geändert hat?«
Längst lag die eigentliche Dschungel hinter ihm, und achtlos trottete er durch die taufeuchten Wiesen, bis er zu der Hütte kam, aus der das einsame Licht schimmerte. Hunde im Dorf schlugen an.
Geräuschlos setzte er sich nieder und stieß ein tiefes Wolfsknurren aus, um die Hunde zum Schweigen zu bringen. »Nun, was kommen muß, kommt. Aber was hast du, Mogli, bei den Lagern des Menschenvolkes zu schaffen?« Er rieb sich den Mund an der Stelle, wo vor Jahren ein Stein ihn getroffen hatte, als das andere Menschenvolk ihn ausstieß.
Die Tür der Hütte ging auf: eine Frau stand im Rahmen und blickte in die Dunkelheit. Drinnen weinte ein Kind, und die Frau rief über die Schulter zurück: »Schlafe! Ein Schakal war es nur, der die Hunde weckte. Bald kommt der Morgen.«
Mogli fing an, wie im Fieber zu zittern. Die Stimme kannte er wohl, aber um sicher zu sein, rief er leise: »Messua, o Messua!« und war erstaunt, daß ihm die Menschensprache zurückkam.
»Wer ruft da?« fragte die Frau mit einem Beben in ihrer Stimme.
»Hast du mich vergessen?« fragte Mogli. Die Kehle wurde ihm heiß, als er sprach.
»Wenn du es bist, nenne mir den Namen, den ich dir gab.« Halb schloß sie die Tür der Hütte und fuhr mit der Hand nach der Brust.
»Nathu! Oh-é – Nathu!« rief Mogli. – Wie ihr vielleicht noch wißt, war das der Name, den Messua ihm gegeben hatte, als er zum erstenmal bei den Menschen erschien.
»Komm, komm, mein Sohn!« rief sie. Mogli trat in das Licht und blickte auf Messua, die Frau, die gut zu ihm gewesen war und deren Leben er rettete vor langen Jahren. Sie war gealtert, und grau war ihr Haar, aber ihre Augen und ihre Stimme hatten sich nicht verändert. Nach Frauenart hatte sie erwartet, ihn so wiederzufinden, wie er sie verlassen hatte; und verwundert wanderten nun ihre Augen von seiner Brust nach seinem Kopf, der mit dem Scheitel an den Türrahmen stieß.
»Mein Sohn«, stammelte sie; und dann sank sie hin vor seine Füße. »Doch nicht mehr mein Sohn steht hier. Ein Gott der Wälder ist er! Ahei!« Kraftvoll, hoch und schön stand er da im roten Licht der Öllampe. Das lange schwarze Haar flutete über die Schultern, vor der Brust hing ihm das Messer, das Haupt schmückte ein Kranz von weißem Jasmin – wirklich erschien er so wie ein wilder Gott der Dschungelsage. Das Kind, aus tiefem Schlummer erwacht, sprang auf und schrie laut vor Schrecken. Messua wandte sich, um es zu beruhigen. Mogli stand unbeweglich und betrachtete sinnend Wasserkrüge, Kochtöpfe, Kornkiste und all die übrige menschliche Habe, die er so gut im Gedächtnis hatte.
»Willst du etwas essen und trinken?« murmelte Messua. »Alles hier ist dein. Wir verdanken dir unser Leben. Aber bist du der, den ich Nathu nannte, oder wirklich ein Gott?«
»Nathu bin ich«, sagte Mogli. »Sehr weit war ich fort von meiner Dschungel. Das Licht sah ich und kam hierher. Ich dachte nicht, dich hier zu finden.«
»Als wir nach Kanhiwara kamen«, begann Messua schüchtern, »sagten die Engländer, sie würden uns helfen gegen die Dorfleute, die uns verbrennen wollten. Erinnerst du dich?«
»Ja, ich vergaß nicht.«
»Aber als das englische Gesetz gesprochen hatte und wir zum Dorf dieser bösen Menschen gingen, war nichts mehr davon zu finden.«
»Auch das habe ich nicht vergessen«, sagte Mogli, seine Nüstern bebten.
»Mein Mann nahm nun Dienst als Feldarbeiter, und später – denn er war stark und fleißig – erwarben wir das Stückchen Land hier. So gut ist der Boden nicht wie im alten Dorfe, aber viel brauchen wir nicht, wir zwei.«
»Wo ist der Mann, der im Schmutz grub, als er sich fürchtete in jener Nacht?«
»Er starb vor einem Jahr.«
»Und er?« Mogli wies auf das Kind.
»Mein Sohn, der vor zwei Regenzeiten geboren wurde. Wenn du ein Schutzgeist bist, so schenke ihm die Gunst der Dschungel, auf daß er sicher sei unter deinem – deinem Volk, wie wir sicher waren in jener Nacht.«
Sie hob ihm das Kind entgegen. Das vergaß alle Furcht und streckte den Arm aus nach dem Messer auf Moglis Brust, um damit zu spielen; sehr behutsam legte Mogli die kleinen Finger zur Seite.
»Und wenn du Nathu bist, den der Tiger fortschleppte«, sagte Messua schluchzend, »dann ist es dein jüngerer Bruder. Gib ihm des älteren Bruders Segen.«
»Ach, ach! Was weiß ich von einem Dinge, das Segen heißt? Weder Schutzgott bin ich noch sein Bruder. O Mutter, Mutter, wie schwer ist mein Herz in mir.« Als er das Kind niedersetzte, erschauerte er.
»Leicht möglich«, sagte Messua, an den Herd tretend. »Das kommt vom nächtlichen Streifen in den Morästen. Fraglos ist dir das Fieber in das Mark gefahren.« Mogli mußte lächeln bei dem Gedanken, daß irgend etwas ihm schaden könnte in der Dschungel. »Feuer will ich machen, und warme Milch sollst du trinken. Lege den Jasminkranz fort, schwer ist der Duft in einer so kleinen Hütte.«
Mogli setzte sich nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte vor sich hin. Fremdartige, nie gekannte Gefühle überkamen ihn, ganz so, als ob er Gift geschluckt hätte, heiß und kalt wurde ihm, schwindelig und übel. In tiefen Zügen trank er die warme Milch; Messua streichelte ihn leise, und so fühlte sie wenigstens, daß er aus Fleisch und Blut war, und das machte sie froh.
»Sohn«, sagte sie endlich, und ihre Augen blickten mit Stolz auf ihn, »hat man dir niemals gesagt, daß du schöner bist als alle anderen Menschen?«
»Ha?« fragte Mogli, denn natürlich hatte er nie derartiges gehört. Messua lachte leise und glücklich. Der Ausdruck seines Gesichts sagte ihr genug.
»Da bin ich also die erste? Aber es ist selten, daß eine Mutter dem Sohn zuerst sagt, daß er schön sei. Nie sah ich so einen Mann.«
Mogli drehte den Kopf und versuchte, über seine feste Schulter hinweg nach rückwärts zu blicken. Messua lachte lange und herzlich, daß Mogli zu seinem Befremden mitlachen mußte. Das Kind lief hin und her zwischen ihnen und lachte auch. »Nein, du darfst nicht lachen über deinen Bruder«, sagte Messua zu dem Kinde und drückte es an ihre Brust. »Wenn du nur halb so schön wirst, verheiraten wir dich mit der jüngsten Tochter eines Königs, und du sollst große Elefanten reiten.«
Mogli verstand kaum jedes dritte Wort dieser Rede. Die warme Milch machte ihn schläfrig nach dem weiten Lauf; so kauerte er sich hin und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Messua strich ihm das Haar aus den Augen, breitete ein Tuch über ihn und fühlte sich glücklich.
Nach Dschungelart durchschlief er den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag; sein Instinkt, der niemals ganz schlummerte, sagte ihm, daß keine Gefahr drohe. Als er erwachte, sprang er hoch, daß die ganze Hütte erbebte, denn unter dem Tuche hatte ihm von Fallgruben und Fallen geträumt. Jetzt stand er mit der Hand am Messer, die rollenden Augen noch schwer vom Schlaf, zum Kampf bereit.
Messua setzte ihm lachend die Abendmahlzeit vor. Sie bestand aus einigen harten, über rauchendem Feuer gebackenen Kuchen, etwas Reis und sauren eingemachten Tamarinden; für ihn mochte das gerade reichen bis zum Abendtöten. Der Tauduft von den Morästen her machte ihn hungrig und rastlos. Er sehnte sich danach, seinen Frühlingslauf zu beenden,