Im Reich des silbernen Löwen I. Karl MayЧитать онлайн книгу.
nicht viel und nur seichtes Wasser; die Spur führte hüben hinein, aber drüben nicht wieder hinaus, wie wir sahen, als wir an das jenseitige Ufer kamen.
»Das ist fatal! Was thun wir nun?« meinte Jim. »Der Kerl muß uns sagen, wie er geritten ist; wir zwingen ihn dazu!«
Ein rascher, verstohlener Blick, den ich in das Gesicht des Gefangenen warf, zeigte mir ein befriedigtes Aufleuchten seiner Augen. Er nahm an, daß seine Spur nun für uns verloren sei, und schöpfte daraus Hoffnung; aber er täuschte sich, denn nichts war leichter, als sie wiederzufinden. Er war jedenfalls drüben in den Fluß geritten; es fragte sich nur, ob ab- oder aufwärts von der Stelle, an welcher wir hielten. Jedenfalls hatte er das Wasser schräg durchquert; vielleicht war er gar eine ganze Strecke im Wasser fortgeritten, ehe er es verlassen hatte. Um dies zu erfahren, brauchte ich nur nach der Stelle zurückzukehren, wo er an das diesseitige Ufer gekommen war. Ich that es, stieg vom Pferde und ging in das Wasser, langsam und vorsichtig, um es nicht zu trüben, Es war klar und seicht, kaum drei Fuß tief, so daß ich auf den Grund sehen konnte. Aufwärts war nichts zu erkennen; aber als ich mich hierauf abwärts wendete, bemerkte ich die Hufstapfen des Pferdes mit genügender Deutlichkeit. Er war von unten heraufgekommen und, natürlich um seine Fährte unauffindbar zu machen, eine bedeutende Strecke weit im Wasser geritten. Der Ort, an welchem er hineingeritten war, lag wohl zweihundert Schritte von der Stelle entfernt, wo er es verlassen hatte und jetzt als Gefangener am andern Ufer bei den Snuffles hielt. Sie sahen mich, und ich winkte ihnen, herbeizukommen und mein Pferd mitzubringen. Als sie mich erreichten und ich ihnen die Fährte wieder zeigte, sagte Jim:
»Ja, das ist Old Shatterhand! Wir hätten sie wahrscheinlich nicht wieder gefunden. Meinst du nicht, alter Tim?«
»Yes,« nickte sein Bruder, indem ich wieder aufstieg, um die Suche nun jenseits, am rechten Ufer abwärts, fortzusetzen. Das Gesicht des Gefangenen hatte sich wieder verdüstert; die kurze Hoffnung war ihm jetzt wieder abhanden gekommen. Er blickte sehr ernst und nachdenklich vor sich hin; ich merkte ihm an, daß er mit sich zu Rate ging. Welchen Erwägungen er sich hingab, konnte ich natürlich nicht wissen, war aber überzeugt, daß wir es bald erfahren würden.
Die Spur führte zunächst am Flusse hinunter und dann in beinahe rechtem Winkel von ihm ab, durch ziemlich dichten Busch und Wald; dann wendete sie sich nach links, bis wir an einen Bach kamen, an dessen Ufer sie aufhörte. Jenseits dieses Baches gab es eine freie Stelle, deren Gras niedergetreten war. Ich stieg vom Pferde und untersuchte den Grund des Wassers; es waren da die Eindrücke von Pferdehufen zu sehen.
»Es scheint, daß da drüben Reiter gelagert haben; meinst du nicht, alter Tim?« fragte Jim Snuffle seinen Bruder.
»Yes,« antwortete dieser.
»Wer mag es gewesen sein? Denkt Ihr, daß wir es erfahren werden, Mr. Shatterhand?«
»Ich hoffe es. Es ist für uns sehr wichtig, zu wissen, wer sich vor zwei Stunden hier befunden hat,« erklärte ich.
»Vor zwei Stunden? Nehmt es mir nicht übel, wenn ich meine, daß es länger her ist! Seht Euch nur das Gras an!«
»Ich sehe es.«
»Well! Da Ihr es seht, so müßt Ihr doch bemerken, wie fest es niedergetreten gewesen ist. Ich nehme an, daß man hier die ganze Nacht gelagert hat.«
»Das denke ich auch.«
»Schön! Unter solchen Verhältnissen aber richtet sich das Gras nicht so rasch wieder auf, als wenn es nur kurze Zeit niedergedrückt wurde. Darum meine ich, daß dieser Platz seit länger als zwei Stunden verlassen worden ist.«
»Sehr richtig; aber Ihr scheint nicht alles gesehen zu haben.«
»Was nicht?«
»Als die Leute, welche seit gestern abend hier lagerten, den Platz verlassen hatten, kamen andere nach, und diese sind erst seit zwei Stunden wieder fort.«
»Andere? So denkt Ihr, daß wir es mit zwei verschiedenen Trupps zu thun haben?«
»Allerdings.«
»Dann sind Eure Augen schärfer als die meinigen, worüber man sich freilich nicht groß wundern kann, wenn man bedenkt, daß Ihr Old Shatterhand seid. Wollt Ihr so gut sein, meinen schwächeren Sehwerkzeugen ein wenig zu Hilfe zu kommen?«
»Gern. Vorher aber will ich erst über den Bach hinüber. Ihr bleibt einstweilen hüben, damit Ihr mir die Spuren nicht verlöscht, die ich zu lesen habe.«
Ich sprang über das nicht breite Wasser und untersuchte das verlassene Lager so genau wie möglich. Als dies geschehen war, rief ich mein Pferd herüber, und die andern drei Reiter folgten nach.
»Darf ich mit meinem alten Tim auch einmal nachforschen?« fragte Jim. »Möchte doch gar zu gern wissen, ob wir es fertig bringen, ganz dasselbe herauszulesen wie Ihr.«
»Habe nichts dagegen,« antwortete ich. »Zwei Männer wie Jim und Tim Snuffle brauchen sich wohl keine große Mühe zu geben, hier zu erfahren, woran sie sind.«
Die beiden stiegen ab und betrachteten die vorhandenen Spuren auf das schärfste; sie teilten sich dabei leise ihre Gedanken mit und schienen einerlei Meinung zu sein; dann sagte Jim:
»Es giebt hier ein Rätsel, welches wir uns nicht erklären können. Wenn Old Shatterhand sagt, daß wir es mit zwei verschiedenen Trupps zu thun haben, so muß es wahr sein; wir bringen aber nur einen Trupp heraus. Wo ist der andere?«
»Hinter dem ersten her.«
»Aber seine Spur, Sir, seine Spur! Wir sehen sie nicht.«
»Wirklich nicht? Und sie liegt doch so deutlich vor Euch. Woher sind die Leute gekommen, welche hier gelagert haben?«
»Da grad aus Süden. Die Fährte ist allerdings deutlich genug, und eine zweite giebt es nicht.«
»Das ist eben ein Irrtum, ein großer Irrtum, den man den beiden Snuffles eigentlich nicht zutrauen sollte.«
»Wieso ein Irrtum?«
»Aus zwei verschiedenen Gründen.«
»Der erste Grund?«
»Die Spur kommt grad aus Süden. Wo geht sie von hier aus hin?«
»Nach Westen.«
»Sie bildet also einen großen Winkel. Wenn Eure Meinung die richtige wäre, so hätten die betreffenden Leute einen bedeutenden Umweg gemacht. Man reitet, wenn man nach Westen will, doch nicht grad nach Norden. Entweder also müßten diese Leute sehr unerfahrene Menschen sein, oder Ihr befindet Euch im Irrtume.«
»Da wird wohl das erstere der Fall sein: unerfahrene Menschen.«
»Nein, denn dagegen spricht der zweite Grund. Seht Euch die Spuren doch recht genau an, Mr. Snuffle! Wie alt ist wohl die von Süden herkommende Fährte?«
»So wie Ihr gesagt habt: ungefähr zwei Stunden.«
»Und die von hier nach Westen führende?«
»Auch so alt.«
»Schön! Wenn dies so wäre – und es ist allerdings so – dann können sich diese Leute doch höchstens einige Minuten hier aufgehalten haben; sie müssen kurz nach ihrer Ankunft wieder fortgeritten sein. Die Spuren aber hier am Platze sind so alt, daß sie auf gestern abend zurückweisen. Wie reimt Ihr das zusammen?«
Er machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht, sah seinen Bruder ratlos an und fragte ihn:
»Ja, wie reimst du das zusammen, alter Tim? Kannst du das?«
»No.«
»Ich auch nicht. Die Fährten, welche her- und wieder fortführen, sind zwei Stunden alt; gelagert aber ist hier seit gestern abend worden. Das ist eine so krumme Sache, daß sie wohl nicht gerade zu machen ist.«
»O doch,« erklärte ich.
»Glaubt Ihr, dies fertig zu bringen?«
»Ja.«
»Dann bitte, thut es doch!